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# taz.de -- Die Linkspartei: Linke wird hip und urban
> Das hat die Bundestagswahl gezeigt: Während die Linkspartei im Osten
> verliert, gelingt es ihr in manchen Westbezirken neue Wähler zu
> mobilisieren.
Bild: Im Wahlbezirk 208 im Norden Neuköllns hat Judith Benda bei der Bundestag…
Berlin taz | „In die Kirche gehen wir nicht“, sagt Judith Benda beim
Treffen am Herrfurthplatz im Neuköllner Schillerkiez. Sie meint das Café
Selig im Seitenflügel der Genezarethkirche. Beim Blick hinüber zuckt die
Linke-Politikerin kurz zusammen. „O Gott, ich dachte, das wären
AfD-Plakate.“
Doch die blauen Poster im Schaufenster greifen nur die Optik auf, sind aber
eine Warnung vor den Rechten. Prompt schwenkt Benda vergnügt um: „Ach,
warum eigentlich nicht?“ Schließlich habe sie auf einem Wahlforum der
Kirchen viel Zustimmung erlebt.
Im Häuserblock rings um die Kirche, dem Wahlbezirk 208, hat Benda bei der
Bundestagswahl 35 Prozent der Erststimmen gewonnen, ihre Partei war mit
38,3 Prozent besser als Grüne und SPD zusammen. Im Norden Neuköllns ist die
Linke stärker als irgendwo sonst in Berlin oder den alten Bundesländern.
„Wir sind die Besten im Westen“, sagt Benda. Weil zum Wahlkreis aber auch
die kleinbürgerlichen Stadtteile Britz, Buckow und Rudow gehören, zieht sie
nicht in den Bundestag ein.
Während die Partei im Osten verliert, gelingt es ihr in den Westberliner
Bezirken, über die einstige Stammklientel aus sozial Schwachen und linken
Weltverbesserern hinaus zu mobilisieren, in sozialen Brennpunkten sowie in
durchgentrifizierten Gegenden. Und trotz gelegentlichem Fremdeln mit den
neuen Wählerschichten tut sie das offensiv. Bei der Diskussionsrunde im
Gemeindezentrum warb Benda mit einem Zitat vom SPD-Politiker Adolf Grimme:
„Ein Sozialist kann Christ sein, ein Christ muss Sozialist sein.“
Im Jahr 2017 vermag die Berliner Linke inzwischen auch Christen
anzusprechen, aber vor allem hat sie sich verjüngt, ist urbaner geworden
und auch ein bisschen hip – wie die 30-jährige Benda selbst. In
beigefarbenem Mantel und mit schwarz geschminkten Wimpern kommt sie schick
daher. Mehr Schiller-Bar als Tanztee der Volkssolidarität. „Alter ist
eigentlich keine politische Kategorie“, sagt Benda, „aber es gibt schon
einen Unterschied zwischen einem 60-jährigen Typen und einer jungen Frau,
die für eine andere politische Praxis steht.“
Als Benda 13 war, zog sie mit ihren Eltern aus Schöneberg ins
brandenburgische Birkenwerder. Erstmals mit Nazis konfrontiert, begann dort
ihre politische Sozialisation. Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester
Friederike Benda, die auch für die Linke kandidierte, engagiert sie sich
gegen Rassismus und rechte Gewalt. Die Arbeit in Initiativen und die
Politik auf der Straße ziehen sich durch ihre Biografie. Stark involviert
war sie mit der Neuköllner Linken in das erfolgreiche Begehren für ein
unbebautes Tempelhofer Feld.
Ihr Personenplakat zur Wahl zeigt sie mit einem Protestschild in der Hand,
„Menschen vor Profite“. Das Bild ist keine Pose, es ist ein Original,
entstanden während der Blockupy-Proteste. Benda will eine klare Ansprache:
„Viele in der Partei trauen sich nicht mehr zu sagen, dass wir Sozialisten
oder Antikapitalisten sind“, sagt sie. Regierungsbeteiligungen sieht sie
kritisch.
Als die Initiative „Hufeisern gegen Rechts“ im Vorwahlkampf um
Unterstützung bittet, kommt Benda nicht nur für ein gemeinsames Foto. „Wir
haben mehrere Stunden gemeinsam Plakate der Initiative aufgehängt“, sagt
Benda. „Der SPD-Direktkandidat im Anzug hat ein Plakat aufgehängt und war
nach fünf Minuten wieder weg.“
Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die Linkspartei dabei, alte Klischees
abzuschütteln. Die PDS-Nachfolgerin mit Lichtenberger Mief, gewählt von
grauen Herren in farblosen Anoraks. Von Russlandfreunden und
Wendeverlierern. In diesen Sphären hat die Linke trotz der vier
Direktmandate deutlich eingebüßt. Verluste, die durch die Zugewinne im
Westen aufgefangen werden.
Gregor Gysi und Co zum Trotz, die Gewinner dieser Wahl sind andere: Pascal
Meiser, der in Friedrichshain-Kreuzberg nur knapp das erste Direktmandat in
einem halb westlichen Bezirk verfehlte. Steve Rauhut, der die Linke in
Mitte zur stärksten Partei machte. Oder Friederike Benda, die im
bürgerlichen Charlottenburg-Wilmersdorf zweistellig einlief, ebenso wie
Alexander King in Tempelhof-Schöneberg. Sie alle sind zwischen 30 und
Anfang 40, geboren im Westen, mit Initiativen verbandelt.
Bei der Wahlparty im Festsaal Kreuzberg müssen die Securitys kurz vor 18
Uhr den Eingang wegen Überfüllung schließen. Drinnen drängen sich viele
junge Menschen unter 40. Und als am späten Abend der erste Schock über die
AfD verdaut ist, tanzen viele von ihnen ausgelassen zur Musik eines
SO36-DJs. „I like to move it“ steht neben der Bühne.
Währenddessen starren die Alteingesessenen aus Partei- und Fraktionsspitze
in einem abgetrennten Bereich auf ihre Smartphones. „Wir haben die SPD
eingeholt“, raunt Parteichefin Katina Schubert den anderen zu, als sich die
ersten Berliner Ergebnisse verfestigen. Es ist eine unbekannte Situation
für die Linke. Zugewinne trotz Regierungsbeteiligung. Auch im Senat macht
die Partei in der Wahrnehmung vieler einiges richtig.
Schubert, in Heidelberg geboren, engagiert sich seit Mitte der 1990er in
der PDS; Ende 2016 löste sie Kultursenator Klaus Lederer an der
Parteispitze ab. Die 55-jährige Politikwissenschaftlerin analysiert am
Morgen nach der Wahl: „Wir haben uns zu einer gesamtstädtischen
Innenstadtpartei entwickelt.“ Innerhalb des S-Bahn-Rings liegt die Linke
mit 22,4 Prozent vor den Grünen und der SPD, auch zur Verwunderung
Schuberts. Auf die Frage, warum die Linke in den Plattenbausiedlungen im
Osten an Dominanz einbüßt, spricht sie von Menschen, „die eine
grundsätzliche andere Gesellschaft wollen als die, die wir entwickeln“, und
von einer „unglaublichen Verachtung für die Demokratie“.
Der Partei gelingt es kaum noch, die Unzufriedenen, die Protestwähler zu
erreichen. Es ist die Kehrseite ihrer Etablierung, ihrer
Regierungsbeteiligungen und ihrer – trotz Wagenknecht’scher Querschüsse –
konsequenten Haltung in der Flüchtlingsfrage. Es gibt Linke, die hinter
vorgehaltener Hand von einem Reinigungsprozess sprechen. Die
problematischen Wähler wenden sich ab und werden ersetzt von einem jungen,
weltoffenen, urbanen Milieu. Die meisten der bundesweit 5.000 neuen
Mitglieder in diesem Jahr – 700 davon in Berlin – sind unter 35.
Menschen wie die 24-jährige Alana Di Filippo, aufgewachsen in Schwäbisch
Gmünd, seit zwei Jahren in Berlin. Fünf Jahre lang engagierte sie sich für
die Jusos, seit März ist sie Mitglied der Linken und war aktiv im
Wahlkampfteam des Mitte-Kandidaten Rauhut. „Hier habe ich meinen Idealismus
wiedergefunden“, sagt sie im schwäbischen Singsang. Bei der SPD habe sich
die Führung von der Basis entkoppelt. Zur Linken sei sie zufällig zu einem
offenen Wahlkampfvorbereitungstreffen gekommen. „Ich hatte ein
klischeehaftes Bild, von Antifas, die nur auf Demos rennen, und
altertümlichen SEDlern“, sagt sie, „gefunden habe ich nette Menschen mit
einer Vision.“
Steve Rauhut, der in Moabit damit beschäftigt ist, einen alten
Kirchencampus als Lebens- und Kulturort inklusive Kita und Platz für
Initiativen auszubauen, spricht davon, „viele ehemalige Wähler von SPD und
Grünen erreicht“ zu haben. „Die eigentlichen Inhalte von beiden sind ganz
stark weg“, sagt er, „das hat uns natürlich geholfen.“ Die Statistik
untermauert das Gefühl des ehemaligen Lufthansa-Managers. Demnach hat die
Linke neben bisherigen Nichtwählern vor allem ehemalige SPD-Wähler gewonnen
– mehr als 30.000. Von den Grünen seien etwa 1.000 Menschen zur Linken
gewechselt. Im Gegenzug verlor die Partei mehr als 50.000 Wähler an die
AfD.
Di Filippo schwärmt vom großen Team von unter 30-Jährigen, die im Wahlkampf
in Mitte alles selber gemacht hätten: von Social Media über Nacht- und
Haustürwahlkampf bis zum mobilen Wohnzimmer, mit dem der Kandidat Gespräche
mit den Bürgern suchte. All das „ohne Spenden und mit dem kleinsten Etat
aller Parteien“. Rauhut sagt: „Wir stehen für eine dynamische Politik, die
so was wie ein Paradigmenwechsel ist.“
Auch Benda insistiert auf ihr besonderes Engagement im Kiez. Wichtiger als
das Wahlergebnis seien zwei andere Ziele: „Mitglieder einbinden und neue
gewinnen.“ Erst durch diese Strategie sei der jetzige Erfolg zu erklären.
Demnächst wird sie im Ortsverband Lichtenberg erklären, wie das so geht mit
der Mitgliedergewinnung. „Wo die Partei aktiv, vernetzt und auf der Straße
ist, ist sie stark“, sagt Benda und überschlägt sich fast in der Aufzählung
ihrer Aktivitäten: offene Wahlkampftreffen, Aktionstage, Zusammenarbeit mit
Initiativen von Geflüchteten, Mietern oder Fahrradfahrern, eigene
Plakatserien, Lautsprechertouren.
Am Montag nach der Wahl rückten Neuköllner Linke wieder zu einem Infostand
aus, erzählt Benda. „Diese Motivation hat selbst mich überrascht.“
30 Sep 2017
## AUTOREN
Erik Peter
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