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# taz.de -- Raffael-Ausstellung in Wien: Anatomie des Imaginären
> Die Expressivität beginnt in den Muskeln: Skizzen und Zeichnungen
> Raffaels erlauben in der Wiener Albertina einen Blick in die Werkstatt
> Malers.
Bild: Der Ausschnitt aus einem Studienblatt zum „Der bethlemitische Kindermor…
Wie studiert man die Anatomie eines Engels? Lieber Engel, kommen Sie doch
bitte heute um 17 Uhr in mein Atelier in Rom, ich arbeite gerade an den
Fresken für die Chigi-Kapelle. Nun, so wird es nicht gewesen sein. Und
dennoch gibt es da diese wunderbare Studie eines jungen, recht muskulösen
männlichen Engels, den Raffael gezeichnet hat, wie er rückwärts mit den
Beinen Luft tritt, den Bauch gespannt, mit den Armen eine Schriftrolle
haltend, die gefiederten Schwingen fast geschlossen.
Das Gewand, das sich im Flugwind bauscht und auf dem Wandbild in der
Kapelle des Bankiers Agostini Chigi seinen Körper umhüllt, flattert ihm in
der mit zartem Rötelstift gefassten Studie noch hinterher. Denn, wie Achim
Gnann, Kurator der am 29. September eröffneten großen Raffael-Ausstellung
in der Albertina in Wien betont, jede Expressivität der Figuren von Raffael
beginnt in der Muskulatur, der Spannung des Körpers. Und nirgendwo lässt
sich dies besser erkennen, als in den Studien, Ideenskizzen und Kartons,
die einem Bild oder Fresko vorausgehen.
In der Albertina in Wien ist jeder Besuch eine große Inszenierung. Denn
bevor man die Ausstellungssäle betritt, schreitet (!) man über roten
Teppich durch eine Säulenhalle und eine Treppe hinauf. Vor der
Raffael-Ausstellung sind an der Wand die Sätze notiert, mit denen sein Tod
1520, mit nur 37 Jahren, betrauert wurde. Vasari schrieb: „Mit dem Tod des
Künstlers starb auch die Malerei, denn als Raffael die Augen schloss, blieb
sie blind zurück.“
## Konkurrent der Natur
Sein Grabspruch im Pantheon in Rom lautete: „Die Natur hatte Angst, als
Raffael lebte, vor seinem Sieg; als er starb, dass sie sterbe mit ihm.“
Konkurrent der Natur, Personifikation der Malerei selbst, das ist eine
Einstimmung auf höchste Erwartungen.
Die Albertina selbst, eine grafische Sammlung, besitzt seit ihrer Gründung
1776 ein großes Konvolut von Raffael, an die 50 Werke; große Bestände hat
das Ashmolean Museum in Oxford, auch aus dem Vatikan und der Sammlung der
britischen Königin stammen Leihgaben für die Ausstellung. Sie bringt
vielfach Werke zusammen, die ursprünglich aus dem Kontext einer Arbeit
stammen: etwa beim „Kindermord von Bethlehem“ Kompositionsskizzen, die noch
Veränderungen erkennen lassen, wie das Zueinander der Figuren, der
fliehenden Mütter und der sie verfolgenden Henker. Die Beziehungen ihrer
Blicke, die Wendungen der Körper erzeugen eine immer größere Dynamik und
Dramatik.
Ausgestellt sind auch Kartons in der Originalgröße der späteren Werke mit
Punktierungen, um die Komposition zu übertragen. Andere Skizzen bereiten
mit Weißhöhungen die Lichtsetzungen vor.
Oft geht es um Detailstudien, immer wieder sieht man beredte Hände. Und
denkt dabei an die Hände des Künstlers selbst, den Durchfluss, den das
Entstehende ja auch durch seinen Körper nehmen musste. Es ist dieser
Gedanke des Prozesshaften, der die Lebendigkeit der chronologisch
aufgebauten Ausstellung ausmacht. Raffael gehört zum Kernbestand der
Albertina, den in einem größeren Werkkontext vorzustellen, dessen
Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder zu seinem Programm gemacht.
## Das „Crescendo“ des Faltenwurfs
Er führte zusammen mit dem Kurator Achim Gnann die Journalisten bei der
Vorbesichtigung: Und wie die beiden Kunsthistoriker sich kenntnisreich und
souverän auffordern, doch nun dieses Detail zu erläutern, jenen
Zusammenhang zu erzählen, ist eine eigene Performance. Der Blick auf drei
Studien mit Faltenwürfen, die zu einem Wandgemälde im Vatikan, der
„Disputa“ gehören, verändert sich, wenn Gnann vom „Crescendo“ der Fal…
redet und wie ihre Bewegung Charakter und Temperament der Figuren
transportiert.
Dabei gibt die Ausstellung auch Gelegenheit Raffaels Karriere zu verfolgen;
vom jungen Maler, voll der Bewunderung für die schon erfolgreichen Künstler
Michelangelo und Leonardo da Vinci, zum gefragten Künstler und Unternehmer,
mit Aufträgen von Päpsten und einem Bankier, die große Wanddekorationen und
den Fortbau des Petersdoms in Rom umfassen.
Seine Wandbilder sind neben den sie betreffenden Zeichnungen oft
ausschnitthaft reproduziert. Trotzdem kann man sich vor den intimen
Papierformaten ihre Monumentalität, das Umfasstwerden von lebensgroßen
Figuren nicht einfach vorstellen.
Aus den Uffizien in Florenz konnte ein Selbstporträt von 1506 ausgeliehen
werden, melancholisch, fast schüchtern wirkt auf uns heute das Gesicht des
jungen Mannes. Aus dem Louvre kommen eine „Madonna mit blauem Diadem“ (von
1511) und ein „Hl. Georg“ (von 1505). Das Pferd bäumt sich auf, der Drache
greift an, der Ritter hat das Schwert erhoben und muss den Hieb nach hinten
führen, um das Ungeheuer zu treffen. So eine Spannung hat großen Schauwert.
## Dreigestirn der Renaissance
Was sich von der Innigkeit der vielen Madonnen, die sich dem spielenden
Jesusknaben und manchmal auch dem hl. Johannes als Kind zuwenden, nicht
immer behaupten lässt. Gelegentlich taucht der Gedanke an
Weihnachtspostkarten auf, wie sie meine Großmutter liebte.
Die Rezeption von Raffael, der gern verehrungsvoll mit Michelangelo und
Leonardo da Vinci in ein Dreigestirn der Renaissance versetzt wird, war
nicht immer ungebrochen. Teils wurden die beiden Älteren als kraftvoller
gegen ihn ausgespielt, teils ihm die große Frömmigkeit und Lieblichkeit
seines Werks angekreidet. In seinen idealisierten Bildern ist kein Dreck
des Alltags und nichts Dämonisches.
Im 19. Jahrhundert erreichte die Raffael-Verehrung gleichwohl kultische
Ausmaße, Künstlergemeinschaften wie die Deutschrömer oder die englischen
Präraffaeliten priesen sein Genie. Was, als die Skepsis gegenüber dem
Geniekult jener Zeit einsetzte, auch das Raffael-Bild in Mitleidenschaft
zog.
## Marktwert sieht man nicht
Ohne Zweifel gehört er heute zu den Stars jeder Sammlung, die ihn besitzt.
2012 wurde bei einer Auktion bei Sotheby’s in London die schwarze
Kreidezeichnung „Kopf eines jungen Apostel“, eine Studie für das Bild
„Transfiguration“, für 36,6 Millionen Euro versteigert. Generaldirektor
Klaus Albrecht Schröder erinnert daran, als er vor den Apostelkopfstudien
steht, die der Albertina selbst gehören. Um zu ergänzen, dass diese
Ausstellung die bisher teuerste des Museums ist.
Marktwert sieht man nicht. Was gleichwohl ein Gefühl für die Kostbarkeit
des Ausgestellten erzeugt, ist zum einen das Wissen, dass vieles, was die
Entstehung eines Werks und den Verlauf eines Gestaltungsprozesses hier
anschaulich erzählt, sonst weit verstreut liegt und nur hier für die Dauer
der Ausstellung zusammenkommt. Und es ist zum anderen die Empfindlichkeit
des Materials, das wenig Licht nur verträgt, um nicht zu verschwinden. Eine
Studie eines Abendmahls, mit Silberstift und Weißhöhung auf ein kleines
Blatt gesetzt, ist so zart, so vergänglich, fast leer scheint das Blatt von
Weitem, von Nahem die Körper nur geträumt.
1 Oct 2017
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Zeichnung
Malerei
Hamburger Kunsthalle
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