# taz.de -- Linke im Wahlkampf: Gysi lässt anschreiben | |
> Gregor Gysi will's wissen. Der 69-Jährige kämpft um ein Direktmandat, | |
> einen Listenplatz hat er nicht. Mit dem linken Politpromi auf | |
> Wahlkampftour. | |
Bild: Gysi beim Besuch des Strandbades. Vorm Fünfmeterbrett hat er Respekt –… | |
BERLIN-FRIEDRICHSHAGEN taz | „Liebe Bürger, ich versuche mal zu erklären, | |
warum Sie mich wählen sollen. Das fällt mir schwer, ist mir auch etwas | |
peinlich.“ Brrrrrummm heult der Motor der Straßenwalze in der Bölschestraße | |
im Ostberliner Stadtrandbezirk Friedrichshagen auf. Gregor Gysi hält im | |
Reden inne, ein seltener Moment. So oft kommt es nicht vor, dass er sich | |
unterbrechen lässt. Aber gegen einen Siebentonner ist selbst eine | |
Wortmaschine wie Gregor Gysi machtlos. | |
Kaum kommt das Vehikel zum Stehen, setzt die Stimme des Ostens, wie ihn die | |
Super-Illu kürzlich taufte, erneut an. „… Und ich habe ja auch etwas | |
bewirkt, die Ruderfähre, die …“ Gysi hält erneut inne, wendet sich an | |
seinen Mitarbeiter. „André, was haben wir noch geschafft?“ Aber dann | |
besinnt er sich. „Nee, das lass ich weg, das kommt so kleinkariert daher.“ | |
Einige Anläufe benötigt Gysi noch, bis er es in einem Rutsch zum Ende des | |
Wahlkampfspots schafft, den er zwischen zwei Terminen einspricht, während | |
seiner Wahlkreistour. „… Ich freute mich sehr, wenn ich wieder im Bundestag | |
bin. Durch Ihre Stimme, Ihre Erststimme. “ | |
Das mit der Erststimme ist wichtig, denn Gregor Gysi kandidiert zwar erneut | |
für den Bundestag, aber nur per Direktmandat. Einen Platz auf der Wahlliste | |
seines Berliner Linksparteiverbandes hat er abgelehnt. Schafft es Gysi also | |
nicht im ersten Anlauf, ist er draußen und mit 69 Jahren Politrentner. | |
Mannomann, dieser Gysi traut sich was! Ist er des Bundestagszirkus’ | |
überdrüssig geworden oder sucht er nach fast 30 Jahren im politischen | |
Geschäft noch einmal den Nervenkitzel? Ach was! Schaut man sich die | |
Wahlergebnisse des vergangenen Jahrzehnts an, ist Gysi ein wohl | |
kalkuliertes Risiko eingegangen: seit 2005 ist er Platzhirsch in dem | |
Ostberliner Bezirk. Beim letzten Mal holte er mit 42 Prozent der | |
Erststimmen mehr als die zweitplatzierten Kandidaten von SPD und CDU | |
zusammen. | |
## Die PDS-Nachfolgepartei verliert an Boden | |
Und mit einem Direktmandat wäre Gysi, der eigentlich sowieso macht, was er | |
will, noch unabhängiger von den Disziplinierungsbemühungen seiner Partei. | |
In den nächsten Jahren will er noch ein bisschen stänkern. „Sollte die | |
Linke tatsächlich einmal in eine Regierung gehen wäre mein störender, | |
unerwünschter Rat dringend erforderlich“, ist er sich sicher. Das die Linke | |
in die Verlegenheit kommt, in eine Bundesregierung einzutreten, ist derzeit | |
ziemlich unwahrscheinlich – Gysi hat also vor, noch ein paar Jahre | |
Bundespolitik zu betreiben. | |
Traditionell wählt man in Treptow-Köpenick rot, auch bei den Zweitstimmen | |
war die Linke 2013 stärkste Partei. Doch die CDU hat aufgeholt, | |
Gutverdiener und Menschen aus den alten Bundesländern, die mit der | |
PDS-Nachfolgepartei nichts verbindet, entdecken Friedrichshagen zunehmend | |
als Wohnort für sich. „Man fühlt sich manchmal richtig fremd“, meint die | |
Kreisvorsitzende des Ortsverbands Friedrichshagen, Sonja Sziborra, die | |
Gysis Tour durch seinen Wahlkreis mitvorbereitet hat. Ihr Kreisverband | |
zählt noch ganze 100 Mitglieder. Früher waren sie mal doppelt so viele. | |
## „Manche halten mich für 30“ | |
Also hängt sich Gysi bei seinem Wahlkreistag an diesem schönen | |
Spätsommertag ordentlich rein und versucht den Bürger zu erklären, warum | |
gerade er, Gregor Gysi, der im 45 Autominuten entfernten Pankow wohnt, am | |
besten geeignet ist, den Bezirk zwischen Plänterwald und Müggelbergen im | |
Parlament zu vertreten. | |
Das kurdische Inhaberehepaar eines Restaurants, wo Gysi 30 Minuten lang | |
Fragen von Bürgern beantwortet, will vom Kandidaten wissen, wie er zur | |
Kurdenfrage steht. Gysi weicht ins Biografische aus, er antwortet mit einer | |
„Abenteuergeschichte aus seinem Leben“. Die Anekdote wird auch in seiner | |
Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“ erscheinen, die er zusammen mit dem | |
CDU-Politiker Peter Altmaier am 8. Oktober im Deutschen Theater vorstellt. | |
Die Veranstaltung ist bereits ausverkauft. | |
„Seitdem beschäftigt mich die Kurdenfrage“, beendet Gysi seine Memoiren und | |
der Restaurantbesitzer strahlt. Er macht Gysi ein Kompliment: „Sie sehen | |
viel jünger aus als 69“ und Gysi antwortet bescheiden lächelnd: „Manche | |
halten mich für 30.“ | |
## Gysi hat ein dickes Adressbuch | |
Im Kiezclub Vital, einem Seniorentreff, wird es Gysi zwar etwas | |
unbehaglich. Die Geburtstagskinder des Monats August sind zusammengekommen, | |
das Durchschnittsalter im Saal liegt bei etwa 90 Jahren. Gysis kurze | |
Begrüßungsrede verunglückt etwas: „Schön, dass sie sich hier beschäftige… | |
Vielleicht macht Gysi die Vorstellung zu schaffen, selbst einmal als | |
Geburtstagskind des Monats Januar bei Rotkäppchen-Sekt und Torte zu sitzen. | |
Jedenfalls rauscht er noch vor dem Ende der Feier zum nächsten Termin. | |
Nicht ohne den Senioren den Rat zu geben: „Genießen Sie das Alter.“ Das | |
habe er sich jedenfalls fest vorgenommen. | |
Zuvor kann er aber den Kümmerer geben: eine Frau, die sich als Anett Lieske | |
von Kultur leben vorstellt, setzte sich zu ihm an den Tisch und erzählt von | |
ihrem Projekt, welches kostenlos übriggebliebene Veranstaltungskarten an | |
Menschen mit schmalem Geldbeutel verteilt. 200 Partner aus Kunst und Kultur | |
habe man bereits, aber die Staatsoper mache bisher nicht mit. „Soll ich | |
vielleicht den Intendanten anschreiben?“, fragt Gysi und beginnt nach einem | |
Kuli zu suchen. Die Frau strahlt: „Ja das wäre gut.“ | |
## „Dahinter schreibe ich noch handschriftlich Liebe Katrin“ | |
In seiner politischen Karriere hat Gysi Kontakte gesammelt wie ein | |
Honigbienchen den Nektar. Vom Intendanten der Staatsoper bis zum ehemaligen | |
Bahnchef Hartmut Mehdorn stehen sie alle in Gysis Iphone. Und diesen Schatz | |
kann er als Abgeordneter ausspielen – ein ähnliches pralles Telefonbuch | |
weisen weder die Abgeordneten von CDU, noch von SPD oder Grünen auf. | |
Die Schauspieler der Anderen Bühne Cöpenick suchen eine Spielstätte. | |
„Zaubern kann ich auch nicht“, sagt Gysi „der Lederer sagt auch mal nee zu | |
mir, der hat auch kein Geld.“ Gemeint ist Gysis Parteifreund, Kultursenator | |
Klaus Lederer. Aber Gysi verspricht, an die Intendantin des Adlershofers | |
Theaters zu schreiben. | |
Der Pächter des Strandbads Friedrichshagen am Müggelsee hätte gern eine | |
Ampel vor dem Eingang, damit Kinder und Schulklassen die schmale aber stark | |
befahrene Straße gefahrlos überqueren können. Verstehe ich, sagt Gysi. Da | |
wird er gleich mal an die Frau Stadtentwicklungssenatorin schreiben. Diesen | |
Posten bekleidet Katrin Lompscher von der Linkspartei. Und kaum wieder im | |
Auto beginnt er in ein Diktiergerät zu sprechen: „Schreiben an die | |
Senatorin für Stadtentwicklung, dahinter schreibe ich noch handschriftlich | |
Liebe Katrin“. | |
## Unterwegs mit drei BKA-Beamten | |
Wie er da leutselig durch Friedrichshagen spaziert, sich die Sorgen von | |
Gewerbetreibenden anhört, bereitwillig Kontakte oder patenten Rat spendet | |
und nebenbei noch für Handyfotos mit jugendlichen Zahnspangenträgern | |
posiert, wirkt Gysi wie der allseits akzeptierte Lokalmatador. Nur die drei | |
BKA-Beamten, deren Sakkos über den Schultern spannen, erinnern daran, dass | |
es Leute gibt, die etwas gegen Gysi haben könnten. | |
Brenzlig wird es für Gysi an diesem Tag nicht. Gefährliche Situationen | |
meidet er. „Herr Gysi, wir wollen sie vom 5 Meter-Brett springen sehen“, | |
ruft ihm ein Gast des Strandbades zu. Aber so weit wagt sich Gysi nicht | |
vor. Er habe ja nie mehr als eine Kerze zustande gebraucht, raunt er. Für | |
die Kinder hat er dennoch einen Rat: „Die Arme immer schön fest an den | |
Körper drücken.“ Noch so ein Tipp, den er selbst nicht so recht beherzigt. | |
## Ihm verzeiht man auch Bauchklatscher | |
Die Welt berichtete im Juli, wie sich Gysi als Anwalt für einen | |
zweifelhaften Investor verwendet hat und seine Kontakte nutzte, um eine | |
Baugenehmigung für ein Grundstück in Potsdam zu besorgen – angeblich für | |
Studentenwohnungen, die aber bisher nicht gebaut wurden. Ach, sagt Gysi im | |
Auto, an den Lobbyismus-Vorwürfen sei nichts dran. Außerdem sei das ja nur | |
so ein Nebenmandat gewesen. | |
An diesem Tag spricht ihn niemand darauf an. Dem Politiker Gysi verzeiht | |
man in seinem Wahlkreis offenbar auch, dass er ab und zu mal einen | |
Bauchklatscher hinlegt. | |
## Am 24. September gönnt sich Gysi Ruhe | |
Auf dem Weg zum letzten Termin, zu einem Künstler, der Holzstatuen mit der | |
Kettensäge herstellt, erinnert ihn sein Mitarbeiter daran, dass man langsam | |
Wahlkreistermine für Oktober brauche – dem Monat nach der Bundestagswahl. | |
Gysis Wahlkampftour gleicht einem Zieleinlauf von Usaine Bolt – locker, | |
lächelnd, den Fans schon vor der Ziellinie Küsschen zuwerfend. Dem | |
Holzbildhauer Wolfgang Ramisch bietet er an, ein paar Exponate in seinem | |
Abgeordnetenbüro auszustellen. | |
Am 24. September zieht sich Gysi dann aber erst mal zurück. Bei der | |
Wahlkampfparty der Linken im Karl-Liebknecht-Haus wird man ihn nicht | |
treffen. Er ist zu Gast in der Kleinkunstshow des Tuba-Solisten und | |
Kabarettisten Andreas Martin Hofmair in Ingolstadt, er wird einen Auftritt | |
hinlegen und ein Stück auf der Tuba spielen. | |
Sein Mitarbeiter ruft ihn aber vorher an, ob es geklappt hat mit dem | |
Bundestagsmandat. | |
10 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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