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# taz.de -- Kolumne Psycho: Korso im Kopf
> Deniz, ich hoffe, dass Du an deinem Geburtstag nur allein bist und –
> trotz der Einzelhaft – nicht einsam. Das ist ein großer Unterschied.
Bild: Deniz Yücel. Leider ein Archivbild
Lieber Deniz,
eine Freundin, die vor kurzem in Indien war, hat erzählt, dass dort kaum
jemand zum Psychologen geht. Wenn irgendwas ist, zieht man sich drei Wochen
lang ins Schweigekloster zurück und meditiert. Anstatt seine Probleme nach
außen zu tragen, geht man tief in sich rein und guckt, was da so los ist.
Danach ist alles wieder super.
Ich musste daran denken, dass du immer noch in Einzelhaft bist. Das ist ein
sehr großer Unterschied zu einem Schweigekloster, vor allem, weil du nicht
freiwillig dort bist. Auf dich selbst zurückgeworfen bist du trotzdem. Wie
hält man das aus, über 200 Tage lang? Hier draußen gehen manche zu
Kuschelpartys, weil sie zu wenig Körperkontakt haben. Und bei einer Studie
vor ein paar Jahren gaben sich die Probanden sogar lieber Elektroschocks,
als 15 Minuten allein und untätig in einem Zimmer zu sitzen.
Ich bin sehr froh, dass du momentan keinen Elektroschocker zur Verfügung
hast. Und kein Internet. Ich habe die Seite schnell wieder zugemacht, auf
der steht, welche Langzeitwirkungen Einzelhaft haben kann. Nicht, weil ich
es nicht ertrage, das zu lesen, sondern weil es mich wahnsinnig wütend
macht. Wie kalt muss ein Mensch sein, dass er einen anderen vorsätzlich
psychisch foltert? Wann hinterlässt eine Einzelhaft Spuren? Ich bin dennoch
optimistisch. Logisch. Du ja auch, bist du immer gewesen.
In einem der Texte, die du im Gefängnis deinen Anwälten diktierst, steht,
dass du mittlerweile täglich Zeitungen bekommst. Ich stelle mir vor, dass
diese Zeitungen deine Elektroschocker sind, dass du dich über Texte
ärgerst, über andere lachst, einige neu schreibst, wenn auch nur im Kopf.
Und dann sind da ja auch noch die Besuche deiner Frau (oft hinter einer
Trennscheibe) und die Gespräche mit dem Richter nebenan (den du nicht sehen
kannst). Die Einschränkungen stehen absichtlich in Klammern, weil ich dem
Pessimismus nicht so viel Raum geben möchte. Ich zitiere lieber das alte
Sprichwort: Besser ein Spatzenpaar im Hof als eine einzelne Taube auf dem
Dach.
Deniz, ich hoffe, du bist nur allein, nicht einsam. Das ist ein großer
Unterschied. Vor allem am Sonntag, an deinem Geburtstag. Weißt du noch, wie
du vor einem Jahr an meinem Geburtstag einfach aufgetaucht bist? Ich
dachte, du seist in Istanbul. Aber du kamst um Mitternacht plötzlich
reinspaziert, in eine Berliner Bar, grinsend. Überraschung! Ich wünschte,
wir könnten heute auch einfach so bei dir reinspazieren und dich mitnehmen.
Dann Autokorso Richtung Flughafen. Tröööt!
Stattdessen gibt es einen Autokorso in Berlin, zum Kanzleramt. Ich wünsche
mir, dass du ihn hörst, hinter den Mauern und dem Stacheldraht, über
Ländergrenzen hinweg. Ich wünsche mir, dass der echte Korso den Korso in
deinem Kopf übertönt, das echte Tröööten das Tröööten deiner Gedanken. …
sie haben zwar deinen Köper eingesperrt, aber nicht deinen Geist. Ersteres
muss sich dringend ändern, letzteres darf es bitte nie.
Fühl dich umarmt,
Franziska
10 Sep 2017
## AUTOREN
Franziska Seyboldt
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Türkei
Psycho
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