| # taz.de -- Kolumne Psycho: Für ein Verschleierungsverbot | |
| > Die Diagnose einer psychischen Krankheit ist kein Todesurteil. Im Zweifel | |
| > hilft sie sogar beim Überleben. Also Schluss mit den Euphemismen! | |
| Bild: Sind psychische Diagnosen das „dessen Name nicht genannt werden darf“? | |
| Meistens ist es eine gute Idee, die Dinge beim Namen zu nennen. Etwa | |
| „Holocaust“ statt „Endlösung der Judenfrage“, „Menstruation“ statt… | |
| von Tante Rosa“ und „Klimawandel“ statt „Wetterextrem“. Denn auch wenn | |
| Donald Trump den Klimawandel nicht wahrhaben will – er wird nicht weggehen, | |
| nur weil Trump den Mitarbeitern des Agrarministeriums verbietet, das Wort | |
| zu benutzen und es mal eben durch ein anderes ersetzt. | |
| Dinge verschwinden nicht einfach, indem man sie umbenennt. Genau wie Kinder | |
| beim Versteckspielen, die immer noch da sind, auch wenn sie sich die Augen | |
| zuhalten. Oder Lord Voldemort aus „Harry Potter“, dessen Umschreibung „Er, | |
| dessen Name nicht genannt werden darf“ seinen Gruselfaktor sogar noch | |
| steigert. | |
| Meine Freundin Helen und ich streiten uns regelmäßig darüber, ob man | |
| psychische Störungen und Krankheiten explizit benennen sollte. Sie findet: | |
| nein. Sie argumentiert mit Schubladen, Stempeln und Stigmata. Erklärt, eine | |
| Diagnose könne erstens falsch sein und würde zweitens ihre persönliche | |
| Freiheit einschränken. Nur weil sie eine Depression habe, sei sie ja noch | |
| lange nicht wie alle anderen Depressiven. Ich sehe das anders. Weil | |
| Freiheit erst beginnt, wenn man die Fakten kennt. Zumindest ist das meine | |
| Erfahrung. | |
| Ich verstand lange nicht, was mit mir los ist, konnte die Panikattacken | |
| nicht einordnen, hatte zwar eine diffuse Idee von diesem „Angstscheiß“, der | |
| mich immer wieder befiel, aber kein besseres Wort dafür. In vielen | |
| Situationen, in denen ich panisch war, spürte ich eine Distanz zu den | |
| Menschen in meinem Umfeld, die ganz anders reagierten als ich. Natürlich | |
| ging ich davon aus, dass sie normal sind und ich nicht, schließlich waren | |
| sie in der Mehrheit. Aber wenn sie normal waren, was war dann ich? Irre? | |
| Verrückt? Übergeschnappt? | |
| Was für eine Erleichterung, als ich endlich die Diagnose bekam: | |
| Angststörung. Auf einmal wurde der Schatten greifbar. Auf einmal konnte ich | |
| anderen Menschen mitteilen, was mit mir los ist. Konnte mich informieren | |
| und fand heraus: Ich bin nicht allein. Und vor allem: nicht verrückt. | |
| Es hilft niemandem, um den heißen Brei herumzureden. Wenn ich mich um das | |
| Wohlergehen einer Person sorge, muss ich wissen, was mit ihr los ist. Die | |
| Diagnose einer psychischen Krankheit ist kein Todesurteil, auch kein | |
| gesellschaftliches. Im Zweifel hilft sie einem sogar, zu überleben. | |
| Denn was soll ich mit der Information anfangen, dass Hans „in einer anderen | |
| Welt lebt“? Fragen, ob dort noch Platz für uns ist, wenn die | |
| „Wetterextreme“ überhandnehmen? Was damit, dass Antje „manchmal so Phasen | |
| hat“? Hat sie die einmal im Monat, während sie blutet, oder ist sie | |
| vielleicht depressiv? Und die „wunderliche“ Kirsten – hat sie einfach nur | |
| ein Interesse an Esoterik oder eine soziale Phobie? | |
| Wer derart verschlüsselt kommuniziert, darf sich nicht wundern, wenn in der | |
| Folge Gerüchte kursieren und Leute auf Distanz gehen. | |
| Ich plädiere deshalb für ein Verschleierungsverbot. Für Worte, nicht für | |
| Menschen. | |
| 15 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Seyboldt | |
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