| # taz.de -- Kolumne Psycho: Reflektieren ist was für Leitpfosten | |
| > Umdenken ist so anstrengend wie der Feminismus: Manchmal nervt er. Aber | |
| > das macht ihn nicht weniger wichtig. | |
| Bild: Oggersheim, 21. Juni: Walter Kohl versucht vergeblich, sich von seinem Va… | |
| Erinnern Sie sich noch an die guten alten Zeiten? Als Männer noch Männer | |
| waren, so kernig und saftig wie ein Pumpernickel, und sich von niemandem | |
| die Butter vom Brot nehmen ließen? Jakob Augstein auch. | |
| In [1][seiner Spiegel-Online-Kolumne beschreibt] er die Bücher, die Walter | |
| Kohl über das angespannte Verhältnis zu seinem Vater Helmut Kohl | |
| geschrieben hat, als „ganz butterig, schmelzzart und fluffig“, denn so ist | |
| das eben in Augsteins Welt: Die einen sind Schwarzbrot, die anderen der | |
| Aufstrich. | |
| Und der Aufstrich nervt. Immerzu, so Augstein, gehe es „um die ‚Kraft, | |
| Einstellungen zu hinterfragen‘, es wird sich neu ‚positioniert‘ und | |
| ‚aufgestellt‘, der ‚innere Dachboden‘ wird aufgeräumt, Lasten rutschen… | |
| ‚wie ein Schneebrett am Berg‘, und es wird ganz viel geweint auf dem Weg | |
| heraus aus dem ‚Opferland‘ einer offenbar gedemütigten Kindheit.“ | |
| Was Augstein eigentlich sagen will: Ey, Weichei-Walter, du Pussy. | |
| Reflektieren ist was für Leitpfosten, damit die echten Männer ihr Auto | |
| nicht in den Graben setzen und stramm auf der Zielgeraden bleiben. Aber geh | |
| du ruhig mit deinen Freundinnen zum Frustshoppen ins Opferland, die haben | |
| Taschentücher im Angebot. | |
| ## Besser Drogen und Alkohol | |
| „Beinahe“, schreibt Augstein dann auch weiter, „sehnt man sich nach den | |
| schlechten alten Zeiten zurück, als die Kinder berühmter Leute ihr Unglück | |
| einfach mit Alkohol und Drogen betäubten.“ | |
| Ach, die schlechten alten Zeiten, die so schlecht eben doch nicht waren, | |
| zwinker, zwinker. Da hatte man entweder eine niedliche Neurose oder einen | |
| ausgewachsenen Dachschaden, aber keine komplizierten Diagnosen wie Burn-out | |
| oder bipolare Störung. | |
| Da verstand man unter einer Eheberatung, dass man vor der Hochzeit | |
| gemütlich mit dem Pfarrer über die Musikauswahl für die Trauung spricht. Da | |
| richteten sich Kinder berühmter Eltern mit Drogen zugrunde und wurden nicht | |
| zu Jammerlappen, sondern zu supercoolen Ikonen. | |
| Aber nur, weil etwas einfacher scheint, ist es noch lange nicht besser. | |
| Umdenken ist anstrengend, das ist wie mit dem Feminismus: Manchmal nervt | |
| er, aber das macht ihn nicht weniger wichtig. Manchmal muss er sogar | |
| nerven, sonst kriegt am Ende womöglich niemand mit, dass es ihn gibt. | |
| ## Rache der Therapiegesellschaft | |
| In den guten neuen Zeiten weiß man etwa, dass Kinder, die von ihren Eltern | |
| verkorkst wurden, ihre Probleme wiederum an ihre Kinder weitergeben – | |
| nicht, weil sie ihnen bewusst schaden wollen, sondern weil die eigene | |
| Kindheit, egal wie gut oder schlecht sie war, Sicherheit symbolisiert. | |
| Deshalb versuchen wir unermüdlich, sie zu reproduzieren. Es sei denn, wir | |
| setzen uns damit auseinander. | |
| Walter Kohl hat das offenbar getan. Man könnte meinen: um sich | |
| freizuschwimmen. Augstein formuliert es lieber als „Rache der | |
| Therapie-Gesellschaft am Patriarchat“. Klingt, als seien wir alle gänzlich | |
| durchtherapiert. | |
| Aber das Problem ist nicht, dass heute viel mehr Menschen als früher zur | |
| Therapie gehen. Sondern dass gerade diejenigen, die es am nötigsten hätten, | |
| es häufig nicht mal in Erwägung ziehen. | |
| 29 Jun 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/helmut-kohl-hatte-machtinstinkt-s… | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Seyboldt | |
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