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# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Was zu beweisen war
> Mit dem Videobeweis ist der Fußball modern geworden. Als Sinnbild einer
> Gesellschaft, die das Spiel ernster nimmt als die mörderische Realität.
Bild: Schiedsrichter Manuel Gräfe macht nach einem Tor des SC Freiburg eine Ge…
Die schönste Geste, die ein Fußballschiedsrichter im Repertoire hat, ist
die Vorteilgeste. Auf der Website des SWR habe ich sie wunderbar so
beschrieben gefunden: „Für die optische Anzeige kann der Schiedsrichter zum
Beispiel im Lauf beide Arme nach vorne nehmen oder auch schräg nach oben
halten. Er kann auch nur durch den Ausruf ‚Vorteil‘ die Spieler auf seine
Entscheidung aufmerksam machen.“
Und dann läuft das Spiel, die Vorteilgeste ist eine Ermöglichungs- und
Beschleunigungsgeste, die von allen Beteiligten eine Ensembleleistung
verlangt, mit dem Schiedsrichter als Dirigenten.
Diese Schiedsrichter waren dann eben auch mal Diven – mal waren sie das
sogar ausschließlich, das heißt, sie waren richtige schlechte
Schiedsrichter; aber sie waren da, wo sie sein sein sollten: Auf dem Platz,
mit oder ohne Haare schön. Mit der Einführung des Videobeweises ist das
vorbei.
In einem [1][Interview] mit dem Deutschlandfunk hat der Kinderpsychiater
Michael Winterhoff folgende, derzeit viel zitierte, Beobachtung
artikuliert: „Insgesamt hat sich der Erwachsene verändert und in den
letzten Jahren dramatisch, das hat sich noch mal verstärkt durch die
Smartphones. Gehen Sie mal in die Stadt, schauen Sie in die Gesichter –
gehetzt, genervt, gereizt, depressiv –, und wenn Sie mal einen haben, der
strahlt und entspannt ist, denken Sie schon –übertrieben – er hat Drogen
genommen.“
Gehetzt, genervt, gereizt, depressiv – genauso sehen die
videobeweisabhängigen Schiedsrichter aus, wenn sie sich, umgeben von
anderen, rudelbildenden Junkies, den Finger ans Ohr halten, um den
Controller besser zu verstehen. Das Spiel ist damit zerstört.
Das, was den Fußball ausgemacht hat, die aristotelische Einheit von Zeit,
Raum und Handlung ist dahin. Das Spiel ist kein geschlossenes Drama mehr,
sondern eingebettet in die Ablenkungskultur der Gegenwart – und insofern
auch endlich zeitgemäß und modern.
## Neurotische Angst
Die Grabesgeste des Fußballs ist dann auch die schwachsinnige
Bildschirmumrandung, der Sarg ist damit gebaut, irgendwer muss nur noch den
Deckel drauflegen.
Der Videobeweis verwandelt ein Spiel in ein todernstes Unterfangen, indem
er es in ein läppisches Videospiel verwandelt, während gleichzeitig die
wirklich todernsten Geschehnisse in unserer Gesellschaft – etwa die
Todeszone Mauerstreifen im Mittelmeer – immer mehr auf das [2][Niveau der
optionalen Wahrnehmung] herunter gezogen werden.
Die neurotische Kleinkindangst, dass ein Elfmeter nicht gegeben werden
könnte, ist größer als die vor dem Klimawandel. Die Welt kann sich zwar
nicht einigen, ob [3][Assad] oder Volkswagen nun [4][Giftgaskiller] seien
oder vielleicht doch nicht, weil sich eben immer ein, womöglich sich auch
noch links meinender oder eben schlicht auf der Payroll stehender Geselle
findet, der das Gegenteil behauptend genügend Zweifel sät, dass das
Gemetzel munter weiter gehen kann: Im Fußball aber – da herrscht nun
eiserne Gewissheit in den unendlichen Weiten der Fan-Debilität.
Und letztlich bin ich dafür natürlich dankbar. Denn nach 40 Jahren
Fußballgucken reicht es ja auch mal. Ich kann nun alle meine Anstrengungen
darauf richten, den Vorteil der gewonnenen Zeit nicht dem Smartphone in die
Arme zu werfen, sondern mich auf die Suche zu begeben: nach der kreativen
Langweile in der beweisfreien Zone – am besten auf dem nächsten Bolzplatz.
8 Sep 2017
## LINKS
[1] http://www.deutschlandfunkkultur.de/kinderpsychiater-ueber-verhaltensauffae…
[2] /Psychologe-ueber-Wahl-in-Oesterreich/!5362705
[3] https://www.monde-diplomatique.de/!5405550
[4] /Archiv-Suche/!5442548/
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Videobeweis
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Rechtspopulismus
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