# taz.de -- Syrische Chemiewaffen | |
> Die UNO ermittelt, Schuldige nennt sie nicht | |
Bild: Chan Scheichun am 5. April 2017 | |
von Akram Belkaïd | |
Am frühen Morgen des 4. April 2017 kamen bei einem Chemiewaffenangriff in | |
Chan Scheichun 87 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Zivilisten. | |
Fast 600 weitere wurden verletzt. Die syrische Regierung bestätigte den | |
Luftangriff gegen die Stadt in der Provinz Idlib, 20 Kilometer von der | |
Front entfernt, an der sich die reguläre syrische Armee und bewaffnete | |
Rebellengruppen gegenüberstehen. Allerdings habe der Angriff mittags | |
stattgefunden und ohne Einsatz von Giftgas. | |
Die Assad-Regierung verwies darauf, dass sie sich im September 2013 dazu | |
verpflichtet hatte, keine C-Waffen mehr zu verwenden, und beteuerte, dass | |
ihr gesamtes Arsenal zwischen Herbst 2013 und Mitte 2014 von der | |
Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) vernichtet wurde. | |
Damaskus beschuldigte überdies die al-Qaida-nahe Dschabhat Fatah asch-Scham | |
– die ehemalige Al-Nusra-Front, die Öffentlichkeit zu manipulieren. | |
In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP am 13. April 2017 | |
bezeichnete Staatschef Baschar al-Assad den Angriff als „zu hundert Prozent | |
konstruiert“ und sprach davon, dass die USA „die ganze Geschichte erfunden�… | |
hätten. Er bezichtigte den Westen der Komplizenschaft mit den | |
„Terroristen“, wie er die bewaffnete Opposition gewöhnlich nennt, und | |
verurteilte Trumps Vergeltungsschlag gegen den syrischen | |
Luftwaffenstützpunkt al-Schairat, von dem, laut Washington, der | |
Giftgasangriff ausgegangen sei. | |
Der Vorfall erinnert an den Saringasangriff in Ghuta, einem Vorort von | |
Damaskus, am 21. August 2013. Damals waren unterschiedlichen Quellen | |
zufolge (darunter die Organisation Médecins du Monde) zwischen 300 und 2000 | |
Menschen ums Leben gekommen. Die Ende August 2013 von der UNO in Auftrag | |
gegebene Untersuchung des Falls benennt, anders als allgemein angenommen, | |
keinen Schuldigen. Die UN-Inspekteure, die mit Zustimmung der syrischen | |
Regierung vor Ort recherchierten, fanden zwar „klare Beweise“ für den | |
massiven Einsatz von Saringas. Aber sie hatten kein Mandat, der Frage | |
nachzugehen, wer für die Chemiewaffenangriffe verantwortlich war. | |
Im Januar 2014 veröffentlichten der ehemalige UN-Inspekteur Richard Lloyd | |
und Theodore Postol, Lehrbeauftragter am Massachussetts Institute of | |
Technology (MIT), einen Bericht, der die syrischen Rebellen belastete und | |
das Regime von den Vorwürfen freisprach. Trotz massiver Kritik von | |
Experten[1]liefert dieses Dokument, das immerhin von einem früheren | |
UN-Mitarbeiter stammt, den Assad-Anhängern willkommene Argumente. Denn, so | |
ein arabischer Diplomat in Washington, der anonym bleiben möchte, „im Fall | |
des C-Waffenangriffs in Ghuta hat die UNO keine der Parteien beschuldigt. | |
Beim Bombenangriff auf Chan Scheichun könnte es jedoch anders kommen, da | |
die UNO diesmal die Verantwortlichen benennen kann, zumindest theoretisch.“ | |
Seit sich Damaskus verpflichtet hat, seine Giftgasvorräte und | |
Produktionsanlagen für Chemiewaffen zu vernichten, überwacht die OVCW die | |
Umsetzung dieses Versprechens. 2013 wurde die Organisation für „ihre | |
intensiven Bemühungen zur Vernichtung chemischer Waffen“ mit dem | |
Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Zu ihrem Auftrag gehört darüber hinaus, | |
„Personen, Einrichtungen, Gruppen oder Regierungen ausfindig zu machen, die | |
in der Arabischen Republik Syrien Chemikalien, einschließlich Chlor oder | |
jeder anderen giftigen Chemikalie, als Waffen eingesetzt oder diesen | |
Einsatz organisiert oder gefördert haben“.[2]Zu diesem Zweck richtete der | |
UN-Sicherheitsrat in der Resolution 2235 vom 7. August 2015 einen | |
„Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus der OVCW und der Vereinten Nationen“ | |
ein. | |
Das Mandat des Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus erlaubt ihm weder „als | |
gerichtliche oder quasigerichtliche Behörde zu handeln oder zu fungieren“, | |
noch verfügt er über die „direkte oder indirekte Autorität oder Kompetenz, | |
eine formelle oder verbindliche richterliche Entscheidung bezüglich der | |
strafrechtlichen Verantwortung zu treffen“.[3]Und doch handelt es sich, wie | |
der ungenannte Diplomat in Washington erläutert, „um eine Einrichtung, die | |
mit ihren Ermittlungen Akten erstellt. Die Informationen, die sie heute vor | |
Ort sammelt, können morgen vielleicht für eine gerichtliche Anklage | |
herangezogen werden. Und das alles wird viel konkreter sein als die | |
Vorwürfe, die Washington vor der Irak-Invasion 2003 gegen das Regime Saddam | |
Husseins erhoben hat. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass die | |
Waffen, die damals im Irak unauffindbar waren, im benachbarten Syrien sehr | |
wohl existierten.“ | |
## Ein einziger UN-Inspekteur vor Ort | |
Der Gemeinsame Untersuchungsmechanismus von OVCW und UNO besitzt keine | |
richterlichen Kompetenzen, die dahinterstehende Absicht ist jedoch | |
eindeutig. Im ersten Bericht der Instanz von Februar 2016 ist zu lesen: | |
„Alle Einzelpersonen, Gruppen, Einrichtungen oder Regierungen, die auf | |
geringste Weise daran mitwirken, den Einsatz von Chemikalien als Waffen zu | |
ermöglichen, müssen begreifen, dass ihre Identität ermittelt wird und dass | |
sie für diese abscheulichen Taten zur Rechenschaft gezogen werden.“ | |
Nach dem Angriff auf Chan Scheichun leitete die OVCW eine Untersuchung ein | |
und bezeichnete den Vorwurf des Giftgaseinsatzes als „glaubwürdige | |
Behauptung“. Die syrische Regierung und ihre russischen Unterstützer baten | |
die Ermittler der Organisation, ihre Untersuchungen vor Ort durchzuführen, | |
und ermahnten sie zur Unparteilichkeit. Laut offiziellen Quellen war die | |
Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten bis 2016 „beständig und intensiv“; im | |
Mai sind weitere hochrangige Treffen geplant. Da die Mitarbeiter des | |
Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus in New York und Den Haag zu strenger | |
Geheimhaltung verpflichtet sind und Kontakte zu den Medien vermeiden, ist | |
über ihre Untersuchungen nur wenig bekannt. | |
Einige Informationen gehen jedoch aus den regelmäßigen Berichten des | |
Exekutivrats der OVCW für den UN-Generalsekretär hervor: Derzeit hält sich | |
nur ein einziger UN-Inspekteur dauerhaft in Syrien auf. Des Weiteren | |
scheint die syrische Regierung sich an die Abmachungen des am 14. September | |
2013 von den USA und Russland in Genf unterzeichneten „Referenzrahmens zur | |
Vernichtung der syrischen Chemiewaffen“ (siehe Chronologie)zu halten. Laut | |
OVCW „wurden alle von der Arabischen Republik Syrien gemeldeten und 2014 | |
aus ihrem Staatsgebiet entfernten Chemikalien vernichtet“. | |
Ende 2016 bestätigte die Organisation ebenfalls, dass „24 der 27 | |
Produktionsstätten für chemische Waffen“, die Damaskus 2013 deklariert | |
hatte, zerstört wurden.[4]Demnach existieren zurzeit noch drei Anlagen, | |
darunter eine Flugzeughalle, zu der die syrischen Behörden dem | |
OVCW-Personal den Zutritt verwehrten, Begründung: Man könne ihre Sicherheit | |
nicht gewährleisten. | |
Aber wo befinden sich die verbliebenen Anlagen? Liegen sie in der Nähe der | |
umkämpften Gebiete oder sind sie womöglich in die Hände einer der vielen | |
Rebellengruppen gefallen? Auf diese Annahme stützt sich die Propaganda des | |
Assad-Lagers. Sie behauptet, die chemischen Waffen seien in den Besitz | |
regierungsfeindlicher Kräfte gelangt und könnten von diesen auch eingesetzt | |
werden. Allerdings könnte sich dieses Argument auch gegen das Assad-Regime | |
richten, falls nachgewiesen werden sollte, dass es nicht alles unternommen | |
hat, um die gesamten Produktionsstätten und Chemiewaffenvorräte in der | |
vorgeschriebenen Zeit zu vernichten. | |
Der Gemeinsame Untersuchungsmechanismus soll auch überprüfen, inwiefern | |
„Führungspersönlichkeiten verpflichtet wurden, die notwendigen und | |
angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Chemikalien als | |
Waffen zum Einsatz kommen“. Die vage gehaltene Formulierung ermöglicht es | |
zumindest, Nachlässigkeiten auf hoher Ebene hinsichtlich der Sicherung | |
chemischer Rüstungsstandorte vor den Rebellen zu ahnden. | |
Bedeutender erscheint das unterschwellige Kräftemessen zwischen UNO und dem | |
syrischen Regime. Verschiedene Dokumente der OVCW belegen, dass der gesamte | |
Prozess der Abrüstung der Chemiewaffen auf einer fragwürdigen Grundlage | |
beruht. „Es war bis jetzt nicht möglich, in vollem Umfang zu überprüfen, ob | |
die Erklärung sowie die anderen Auskünfte der Arabischen Republik Syrien | |
zutreffend und vollständig sind“, heißt es in einem an den damaligen | |
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gerichteten Bericht.[5]Mit anderen Worten: | |
Die Liste der Arsenale und Produktionsstätten von chemischen Kampfstoffen, | |
die Damaskus der OVCW im September 2013 unter Zeitdruck übermittelt hatte, | |
könnte sich als unvollständig erweisen. | |
Seit Frühjahr 2016 verweisen die Dokumente und Berichte der Organisation | |
mit Nachdruck auf „Informationslücken, Widersprüche und Unstimmigkeiten“ | |
in der syrischen Erklärung. Über diese Kritik ist im Einzelnen nicht viel | |
bekannt, abgesehen davon, dass es dabei auch um die Rolle des syrischen | |
Zentrums für wissenschaftliche Studien und Forschung (SSRC) geht. Die | |
diesbezüglichen Angaben stimmen laut OVCW nicht mit Umfang und Charakter | |
der Aktivitäten überein, die das Zentrum bei der Entwicklung des | |
Chemiewaffenprogramms hatte. | |
Die Kritik der OVCW gibt Anlass zu allerlei Mutmaßungen und ermöglicht | |
letzten Endes auch Instrumentalisierungen jeglicher Art. Eine nachgewiesene | |
Lüge wäre zunächst ein Verstoß gegen die UN-Resolution 2118 vom 27. | |
September 2013, die allen „syrischen Parteien“, sei es der Staat oder | |
nichtstaatliche Akteure, verbietet, chemische Waffen zu besitzen, zu | |
erwerben, herzustellen, weiterzugeben oder einzusetzen. Auch Russland käme | |
dadurch in eine unbequeme Lage, denn im August 2013 hatte Moskau eine | |
militärische Eskalation zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich und | |
Syrien nur dadurch verhindern können, dass es den Plan zur sofortigen | |
Abrüstung des gesamten syrischen C-Waffen-Arsenals und der entsprechenden | |
Produktionsstätten vorgeschlagen hatte. | |
Der Gemeinsame Untersuchungsmechanismus geht trotz alledem weiter seiner | |
Arbeit nach, ohne sich auch nur im Geringsten zur Verantwortung der einen | |
oder der anderen Seite zu äußern. Schon vor dem Angriff auf Chan Scheichun | |
wartete die arabische Presse auf mögliche Erkenntnisse oder gar konkrete | |
Anschuldigungen bezüglich eines früheren Giftgasangriffs auf Daraja, einen | |
Vorort von Damaskus, am 15. Februar 2015. Die OVCW-Mission verwies unwillig | |
auf die „hochgradige Wahrscheinlichkeit, dass einige Personen zu einem | |
bestimmten Zeitpunkt Sarin oder einer sarinähnlichen Substanz ausgesetzt | |
gewesen“ seien, sie könne jedoch nicht „feststellen, wie, wann und unter | |
welchen Umständen dies geschehen“ sei. | |
Bis heute verzeichnet die OVCM etwa 100 mutmaßliche Fälle von | |
C-Waffen-Einsätzen, also Verstöße gegen die Resolution 2118, und leitete | |
mehr als 30 Untersuchungen ein. Am 17. November 2016 beschloss der | |
UN-Sicherheitsrat, das Mandat des Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus um | |
ein Jahr zu verlängern. Vielleicht wird es dieser hoch angesehenen | |
Organisation ja doch möglich sein, die Verantwortlichen für die | |
Giftgasangriffe zu ermitteln und ihre Untersuchungsergebnisse der | |
Öffentlichkeit zugänglich zu machen. | |
1↑ Eliot Higgins, „Attempts to blame the Syrian opposition for the August | |
21st sarin attacks continue one year on“, Bellingcat, 20. August 2014: | |
www.bellingcat.com. | |
2↑ Bericht der OVCM an den UN-Generalsekretär vom 12. Februar 2016. | |
3↑ Siehe Anmerkung 2. | |
4↑ Bericht des Generaldirektors der OVCM an den UN-Generalsekretär vom 29. | |
Dezember 2016. | |
5↑ 28. März 2016. | |
Aus dem Französischen von Inga Frohn | |
Akram Belkaïd ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Être | |
arabe aujourd’hui“, Paris (Éditions Carnets Nord) 2011. | |
akram-belkaid.blogspot.com. | |
11 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Akram Belkaïd | |
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