# taz.de -- Der Hausbesuch: Einer, der Ordnung ins Chaos bringt | |
> Karl-Heinz Viemann ist elektrisiert von der RAF. Er will alles wissen, | |
> sammelt, was er dazu kriegen kann. Er will aufklären, was unaufklärbar | |
> ist. | |
Bild: Erika und Karl-Heinz Viemann in ihrem Wohnzimmer | |
Rheinische Frohnaturen sind Erika und Karl-Heinz Viemann. Was die Frohnatur | |
ausmacht? Küsschen auf die Wange und Offenheit. Zu Besuch bei einem | |
Hobbyforscher und seiner Frau in Steinhagen. Das Thema, das ihn nicht | |
loslässt: die RAF. | |
Draußen: Steinhagen ist die Schlafstadt von Bielefeld. 20.000 Einwohner hat | |
der Ort und ist trotzdem ein Dorf. Häuser mit kleinen Gärten voller | |
gestutzter Lebensbäume und makellosem Rasen drängen sich am Ortsrand. Im | |
Hintergrund steigt der Teutoburger Wald an mit bergigem Flair. | |
Drinnen: Die dunkelrote Ledercouch im Wohnzimmer ist Blickfang, dazu gibt’s | |
weiße Möbel, eine Moriskensammlung, Fernseher, Bücher. In ihrem | |
Schlafzimmer hängt die Ahnengalerie, in seinem stehen Regale voller weißer | |
Ordner, auf deren Rücken das RAF-Logo prangt. Auf dem Couchtisch liegt ein | |
Stern. „Das Attentat“ steht groß auf dem Titel. „Ich hab’ das aber jet… | |
nicht extra hingelegt“, sagt er. Auf der anderen Tischecke liegt ein Buch, | |
das die Vorzüge der Farben Grau und Schwarz preist. Erika Viemann hat es | |
von der Schwiegertochter und dem Sohn. Der Sohn „hatte in seiner Jugend | |
eine Gruftiphase“, sagt die Mutter. Heute arbeitet er bei der Deutschen | |
Bank. | |
Die Ahnengalerie: Drei Reihen Fotos hängen neben ihrem Bett: oben die | |
Hochzeitsbilder der Eltern, unten die des Sohnes und der Neffen, in der | |
Mitte die von Viemanns und den Geschwistern – er hat zwei Brüder, sie eine | |
Schwester, ihre Schwester ist mit seinem ältesten Bruder verheiratet. „Auf | |
der Hochzeit von denen hat es bei uns gefunkt“, sagt er. 1967 haben sie | |
dann selbst geheiratet. „Raten Sie, was wir dieses Jahr noch feiern?“ Nur, | |
was bedeutet das, wenn man so geschwisterlich verbandelt ist? „Die Familie | |
wird kleiner“, sagt sie. Sowieso, „unsere Familien sterben aus.“ Ihr Sohn | |
und die Neffen haben keinen Nachwuchs. Sei halt so. | |
Doppelkopf: Wehmütig und ein wenig neidisch auf das Opa-Oma-Dasein sind sie | |
nur, wenn sie mit ihren Doppelkopffreunden zusammen sind, die seien | |
innerhalb von drei Jahren sechsmal Großeltern geworden, zwei mal waren | |
Zwillinge dabei. Vom Geld, das sie beim Doppelkopfspielen gewinnen, fahren | |
sie in Urlaub, „eigentlich machen wir nur noch Städtetouren“, zuletzt sind | |
sie aber doch eine Woche nach Polen gefahren und haben Erika Viemanns | |
Elternhaus gesucht. „Es war noch da.“ | |
Sie war drei Jahre alt, als sie nach dem Krieg Münsterberg bei Breslau, | |
Wrocław, verlassen mussten, „im Güterwaggon“. Erinnern kann sie sich vor | |
allem an die Leute, bei denen sie unterkamen. Ein Zimmer, die Möbel aus | |
Obstkisten. „Die erste Station bei der Frau war schlimm“, sagt sie. Die | |
Frau so feindselig. Die zweite Station bei einem Diakon war besser. Er | |
soll nett zu den Kindern gewesen sein. | |
Nachkriegskindheit: Sie ist 1942 geboren und in Bielefeld aufgewachsen, er | |
kam 1946 zur Welt und ist Wuppertaler. Ihr Vater war in beiden Weltkriegen | |
Soldat und habe immer darüber geredet. Karl-Heinz Viemanns Vater dagegen, | |
der vor dem Krieg bei der Polizei war, dann bei der Wehrmacht, kam | |
kriegsversehrt zurück. „Ein Bein weg, Splitter im Körper, im Kopf. Die | |
Splitter wanderten.“ Die drei Söhne hätten ihn gelöchert mit Fragen, der | |
Vater schwieg. Viemann glaubt, es habe mit dem Schweigen des Vaters zu tun, | |
dass ihn Attentate so elektrisieren. | |
Nicht nur die der RAF, auch das auf Kennedy, und das 1972 bei der Olympiade | |
in München. Er will Antworten, will etwas aufklären, was nicht aufzuklären | |
ist. Auch dass er zum Militär ging, denkt er, hat mit dem schweigenden, | |
unberechenbaren, unglücklichen Vater zu tun. „Er war so verbittert, wir | |
kamen nicht an ihn ran.“ Genauer erklären kann er aber den Zusammenhang | |
nicht. | |
Armee: Nach der Kfz-Lehre wird er 1966 zu Bundeswehr eingezogen und | |
verpflichtet sich bald als Berufssoldat. „Die einen sind wild geworden und | |
haben Bomben gelegt, die anderen suchten Struktur.“ Er arbeitet sich hoch | |
bis zum Oberstabsfeldwebel, dem höchsten Unteroffiziersgrad, „eine | |
Bombenstellung, zweiter Mann hinter dem Kommandeur“, sagt er. Für | |
Versorgung, Personal, Ausbildung, ist er zuständig. „Aber nie in einem | |
bewaffneten Konflikt.“ Hätte er nach Afghanistan gemusst, er hätte sich | |
nicht entzogen. „Befehl und Gehorsam“, sagt er. Und sie: „Wir waren noch … | |
gestrickt.“ Sie arbeitete im Einzelhandel, betreute Lehrlinge. | |
Nach der Wende: Schon 1995, mit 49 Jahren, geht Karl-Heinz Viemann in | |
Ruhestand. „Deutschland hatte 750.000 Soldaten mit den ganzen NVA-Leuten | |
der DDR. Personal musste abgebaut werden.“ Er fiel in eine Kategorie, wo | |
der Abschiedshandschlag Vorteile hatte. In der Armee war Viemann vor allem | |
Organisator, einer mit Überblick. Genau wie heute bei seinen Recherchen zur | |
RAF hat er schon damals Listen erstellt, um Ordnung ins Chaos zu bringen. | |
Listen: RAF-angefixt wurde er 1977, nach den Attentaten auf Buback, Ponto, | |
Schleyer. „Dieser Angriff auf den Staat war was Luftiges, Ungreifbares. | |
Wenn wir uns als Soldaten trafen, war das Thema.“ Und es hat Unsicherheit | |
ausgelöst. „Die Bundeswehr war ja auch Ziel. Wir waren betroffen, in Sorge, | |
ängstlich“, man habe diese Gefühle aber weggedrückt. Was in den Zeitungen | |
stand, sei auch nicht hilfreich gewesen. „Die Presse war ja | |
gleichgeschaltet.“ | |
Allerdings fing er erst in den 80er-Jahren an, sich recherchierend | |
einzuklinken und das ganze RAF-Geschehen in Listen und Diagramme zu | |
übertragen: Wann, wo, wie welcher Anschlag war, wie die Verbindungen der | |
Beteiligten sind, wann welche Figur die Bühne betrat, wer unter welchen | |
Bedingungen das Kommando übernahm, wer wie wo entführt, freigelassen, | |
getötet wurde. Alles halt. Er hat Fotos von allem, von den Orten, den | |
Geiseln, den Terroristen. Fotos auch, die keine Zeitung druckt. Baader in | |
der Blutlache, Ensslin, erdrosselt am Gitter. Er wollte Spuren finden, die | |
nicht bedacht wurden. „So hatte mein Mann etwas zu tun“, sagt seine Frau. | |
Die Passagierliste: Zuletzt hatte sich Karl-Heinz Viemann in den Kopf | |
gesetzt, die Passagiere, die bei der Flugzeugentführung der „Landshut“ | |
tagelang in Mogadischu festsaßen, noch einmal zusammenzubringen. Eine | |
Puzzlearbeit, denn das Ministerium gibt nur geschwärzte Listen raus. | |
Trotzdem: Er hat die Namen rausgekriegt, weiß, welche Frau heute wie heißt, | |
weiß, wer schon tot ist, weiß, wer wo wohnt, korrespondiert mit vielen. | |
Die Geiseln und er, das ist so ein Auf-du-und-du-Ding. „Ich bin zu 80 | |
Prozent zufrieden mit meiner Recherche.“ Nur die Hoffnung, so etwas wie ein | |
Klassentreffen der Entführten zu organisieren, hat er aufgegeben. Aber wenn | |
die „Landshut“ nach Deutschland kommt, wollen die beiden sie „besuchen“. | |
Besuchen sagt er, nicht besichtigen. | |
Das Leben: Über all dem ist die Zeit vergangen. Zehn Jahre haben die zwei | |
noch in München gewohnt nach seinem Ruhestand. Er war dort der | |
Privatsekretär eines Mietshausbesitzers und sie Hausdame einer dementen | |
Bewohnerin. Dort hätten sie gesehen, dass es schrecklich sei, wenn man im | |
Alter einsam ist. Deshalb sind sie zurück in die Bielefelder Region, wo | |
ihre Verwandten wohnen. | |
Das Leben habe ihnen recht gegeben – man müsse dort sein, wo jemand einen | |
auffängt, sagt sie, denn 2011 bekam er die Krebsdiagnose, 2013 sie. „Wenn | |
sie die Diagnose kriegen, da fällt alles zusammen“, sagt er. Sie indes | |
meint: „Ich bin da anders, ich sage okay und mache, was nötig ist.“ Bis | |
jetzt geht es beiden gut. | |
Und was ist für sie Glück? „Dass wir in Frieden leben“, sagt er, aber | |
sicher seien sie nicht. „Es gibt da Figuren am Ruder, die spielen mit dem | |
Feuer.“ | |
8 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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