| # taz.de -- Der Hausbesuch: Bei ihm pumpt das Herz | |
| > Als Kind liebte er die Mühle des Großvaters, jetzt lebt er in Leipzig: | |
| > Stephan Tuchscherer macht Krafttraining und schreibt Gedichte. | |
| Bild: Das Liebste ist ihm der Chorgesang, sagt Bodybuilder Stephan Tuchscherer | |
| Er wollte nie aus dem Vogtland weg. Nun wohnt er in Leipzig. Zu Besuch bei | |
| dem Bodybuilder, Chorsänger, Lyriker Stephan Tuchscherer. | |
| Draußen: „Auf der Brücke über dem Fluss. Dem Lebensfluss. Dort ist eine | |
| Bleibe. Doch nur für kurze Zeit. Aber ist’s da unvergleichlich schön, zu | |
| jeder Jahreszeit.“ – Zeilen, die Stephan Tuchscherer vor vier Jahren | |
| geschrieben hat. Seit einem Jahr sind sie sozusagen sein tägliches Glück: | |
| Nur über Brücken ist sein Stadtteil in Leipzig, Schleußig, erreichbar. | |
| Hinter dem Haus treiben Paddelboote: Stromaufwärts bis in die Saale, | |
| stromabwärts vorbei an den Stränden des „Cossis“, des Cospudener Sees. | |
| Drinnen: Die junge Königin Beatrix winkt ihren Gästen zum Empfang. Gehüllt | |
| in knallige Farben, lächelt sie von dem Gemälde im Flur. Orangefarbene | |
| Teetassen, tulpenartig geformte Stühle auf dem Balkon. Erst hier, | |
| allmählich, erschließt sich, was auf dem Klingelschild steht: „Holland | |
| Office“. „Die Wohnung gehört meinem niederländischen Geschäftspartner“, | |
| sagt Stephan Tuchscherer. Von ihm, erklärt er, stammen in diesen vier | |
| Wänden vor allem die Eierpappen. In Türmen stapeln sie sich in der Küche, | |
| Eier isst er viele: „Jeden zweiten Tag zwanzig.“ Seine „groteske | |
| Erscheinung“ komme schließlich nicht von ungefähr. | |
| Die Kindheit verbrachte Stephan Tuchscherer am liebsten 200 Meter vom | |
| Grenzzaun entfernt („Irgendwo war dann einfach Schluss“): Dort, umgeben von | |
| Obstbäumen, lag die Mühle seines geliebten Großvaters. Geboren ist | |
| Tuchscherer im südthüringischen Ummerstadt, wo es schon zu DDR-Zeiten kaum | |
| Arbeit gab. Mit den Eltern ist er nach Auerbach im sächsischen Vogtland | |
| gezogen, doch in den Ferien schleppte er die Stämme im Garten seines Opas | |
| und lernte sägen. | |
| Diese Erinnerungen haben sich „tief ins Muskelfleisch geschnitten“, wie | |
| Tuchscherer sagt. Die Mühle übernehmen, Konzerte veranstalten und dort | |
| Schuberts „Forelle“ singen: so sah sein Lebenstraum aus. Nach dem Tod des | |
| Großvaters aber wurde das Anwesen verkauft, „für ein Taschengeld“ – | |
| Erbschaftsstreitigkeiten. | |
| Mit dem Vater ging er das erste Mal ins Fitnessstudio, als er zwölf war. Am | |
| 16. September 1998 kaufte Stephan Tuchscherer sein erstes Kraftgerät, „für | |
| 1.300 DM“, das weiß er noch genau. Von da an trainierte er fünf- bis | |
| sechsmal pro Woche. Bankdrücken, Kniebeugen, Kreuzheben. In fünf Jahren | |
| nahm er 50 Kilo zu. Als er 130 Kilo wog, stellte er auf Parkplätzen schon | |
| mal Autos um („zur Belustigung“). Ein Beziehungsende wirft ihn aus der | |
| Bahn, er gestaltet seinen Körper um, verliert wieder an Masse. Nun möchte | |
| er „mit Schönheit brüskieren“. | |
| Erinnerung: Als er mit den Eltern das erste Mal über die innerdeutsche | |
| Grenze fuhr, schallte Phil Collins’ „In The Air Tonight“ aus dem Radio. In | |
| der fränkischen Kleinstadt Hof traf er nicht nur auf Verwandte, die er von | |
| Fotos her kannte, sondern auch auf „Parkhäuser, Westautos, mehrere Sorten | |
| Milch …“ Wasserkraft hätte er gern studiert, Turbinen und Staudämme gebau… | |
| Aber weg aus dem grünen Vogtland? „Ich konnte nicht fort.“ Nach der | |
| Ausbildung zum Modellbauer in Schönheide hat er als Abteilungsleiter | |
| gearbeitet – bis letztes Jahr. Er will nicht mehr zwischen Angestellten und | |
| Chefetage stehen. In Leipzig ist er nun auf „Selbstfindung in der | |
| Selbstständigkeit“. | |
| Musik: BWV 582, die Passacaglia in c-Moll, ist für ihn das schönste Werk | |
| aus dem Bach-Verzeichnis. Und klassische Musik eine frühe Leidenschaft: Mit | |
| selbst ausgedachten Melodien vertonte er einst die Notenblätter seiner | |
| Mutter. Ein Gesangslehrer bescheinigte ihm viele Jahre später ein | |
| „erschreckendes Potenzial“, viereinviertel Oktaven Stimmumfang. Der | |
| Chorgesang, sagt Stephan Tuchscherer, sei ihm noch immer das Liebste, die | |
| Mehrstimmigkeit „unglaublich“. | |
| Was er dabei empfindet? „Miteinander zu singen ist die aufrichtigste Art, | |
| sich zu lieben. Stücke, bei denen „das Herz richtig zu pumpen anfängt“, | |
| gefallen ihm: Schuberts „Winterreise“ zum Beispiel. Anton Bruckner, | |
| achtstimmige Motetten. Sein Lieblingschoral: „Wer nur den lieben Gott lässt | |
| walten“. | |
| Halt: „Im Glauben finde ich das, was ich mir wünsche“, sagt er. „Frieden, | |
| Gemeinschaft, Werte.“ Der Atheismus der DDR reichte nicht bis zum | |
| Erzgebirgsrand, nicht bis zu ihm, er ist überzeugter Christ. In Jugendtagen | |
| ging er jeden Sonntag mit seinem besten Freund in die Kirche, auch dann, | |
| wenn sie samstags bis tief in die Nacht angeln waren. Glaube sei „ein | |
| Geschenk, das man bekommt“, man könne sich nicht darum bemühen. Die Zehn | |
| Gebote, denkt er, bilden das Fundament einer funktionierenden | |
| Gesellschaft – ob gläubig oder nicht. | |
| Eindruck hinterlassen: An seinem ersten Tag in Leipzig sang er einen Choral | |
| in der Thomaskirche „aus voller Brust“, den Anwesenden gefiel es. „Hier�… | |
| in Leipzig, „darf man wie Sonne strahlen“, sagt er. Momentan verfolgt | |
| Stephan Tuchscherer viele Projekte. Eines davon ist der Fitness Society | |
| Club, eine Onlinebibliothek für Personal Trainer mit Ernährungs- und | |
| Trainingsplänen. Dann noch eine Kosmetiklinie mit dem holländischen | |
| Geschäftspartner. Und eine Anzugserie für Bodybuilder. Alles soll auf | |
| Instagram vermarktet werden, dort hat er als „Graf Natural“ bereits 5.000 | |
| Follower. Ihm sei bewusst, dass seine Erscheinung polarisiere. Aber sie | |
| fasziniere auch: „Wenn man an den Menschen vorbeigeht und gar keinen | |
| Eindruck hinterlässt, passiert aber auch nichts.“ | |
| Mehl und Lyrik: Die Gedichte, die Stephan Tuchscherer schreibt, möchte er | |
| irgendwann in einem Band herausgeben. Wenn er Poesie schreibt, sei alles | |
| schon im Kopf, sodass die Worte es schnell auf Papier schaffen: Binnen | |
| einer Viertelstunde würden die Verse nur so aus ihm herausbrechen – wie bei | |
| einem Gewitter. Und dann ist da noch der Wunsch nach einer Mühle, in der er | |
| gern leben und arbeiten würde: „Holz sägen, Mehl mahlen.“ Am liebsten | |
| irgendwo zwischen Harz und Erzgebirge. | |
| Und wie findet er Merkel? Sie habe den Menschen keine Antworten auf die | |
| Flüchtlingskrise geben können, „mittlerweile sehe ich aber auch, dass sie | |
| die gar nicht geben kann“. Manchmal müsse man „das Zepter“ in die Hand | |
| nehmen, auch ohne die Zukunft voraussagen zu können. Leipzig vertrage diese | |
| Ungewissheit gut, für die Menschen in seiner vogtländischen Heimat sei das | |
| schwieriger: „Sie wollen, dass ihnen jemand ehrlich die Hand schüttelt und | |
| sagt: Hey, wie geht es dir?“ Von der Politik würden sie sich nicht | |
| angesprochen fühlen. Die Südsachsen hätten auch keine braune Grundstimmung | |
| – sie seien einfach unzufrieden und hätten Angst. | |
| 26 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna-Theresa Bachmann | |
| Dominik Wolf | |
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