# taz.de -- Pädophile Neigung: Das Gefühl, falsch zu sein | |
> Mike liebt David. Aber Mike liebt auch die Körper heranwachsender Jungs. | |
> Sein Leben ist ein Kampf gegen sich selbst. | |
Bild: Objekte der Begierde: Loswerden wird Mike diese Neigung nie | |
BERLIN taz | In seinem Drehstuhl rutscht Mike* nach links, dann nach | |
rechts. Er drückt sich gegen die Lehne, als suche er Halt. Die Finger der | |
linken Hand streichen über die der rechten. Mike will heute seine | |
Geschichte erzählen, zum ersten Mal einem fremden Menschen außerhalb der | |
Therapiesitzungen. Das ist nicht leicht. Mike ist Ende 30, verheiratet mit | |
einem Mann. Und Mike ist hebephil. Das heißt: Auf ihn wirken Jugendliche | |
anziehend, deren Körper beginnen, Geschlechtsmerkmale auszuprägen. | |
Man trifft Mike im Büro von Jens Wagner. In einem Berliner Hinterhaus, | |
vorbei an der halbherzig eingerichteten Raucherecke, die Treppe hinauf in | |
den ersten Stock. Zwei Schreibtische, wenig Möbel, körniger blauer | |
Teppichboden. Teil des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin | |
der Charité Berlin. Mike macht eine Therapie beim Präventionsnetzwerk „Kein | |
Täter werden“, das sich an Männer und Frauen mit pädophiler Neigung wendet. | |
Es ist einer der wenigen Schutzräume für sie. In der Luft der Duft von | |
Kaffee. | |
Jens Wagner ist Sprecher von „Kein Täter werden“. Am Telefon hatte er mit | |
freundlicher, ruhiger Stimme gesagt: „Viele haben ja das Gefühl zu wissen, | |
wie Pädophile aussehen würden, als gäbe es da irgendwelche äußeren | |
Erkennungsmerkmale. Dabei sind das ganz normale Menschen, die hier zu uns | |
kommen.“ So wie Mike. | |
„Kein Tater werden“ wurde 2005 gegründet, heute gibt es in elf Städten | |
Beratungsstellen. Anfang der nuller Jahre berichteten viele Medien | |
anprangernd über Pädophilie und Hebephilie, losgelost davon, wie die | |
Betroffenen tatsachlich mit ihrer Neigung leben. Das ist doch | |
undifferenziert, dachten Sexualwissenschaftler_innen an der Berliner | |
Charité. Sie wussten: Pädophilie und Hebephilie führen nicht gleich zu | |
Missbrauch. Tatsächlich sind zwei Drittel der Missbrauchstäter_innen | |
Ersatzhandlungstäter_innen. Das heißt: Sie fühlen sich zu Erwachsenen | |
hingezogen, begehen aber dennoch sexuellen Kindesmissbrauch, etwa weil sie | |
eine Persönlichkeitsstörung haben. | |
In dem Berliner Hinterhofbüro sagt Mike nun: „Ich hatte immer das Gefühl, | |
falsch zu sein.“ Während er spricht, faltet er ein Blatt Papier, immer | |
wieder. „Meine erste sexuelle Erfahrung war mit 14 Jahren, mit einem Jungen | |
in meinem Alter. Das war wunderschön.“ Beide probierten sich aus, wie es | |
Jugendliche in diesem Alter tun. Nämlich ohne genau zu wissen, worauf sie | |
stehen und was genau das ist: Sexualität. Für Mike fühlten sich die | |
Berührungen gut an. Zärtlich waren sie zueinander. Mike erzählt: „Manchmal | |
denke ich: Vielleicht kommt mein Interesse an 13–15-jährigen Jungen auch | |
daher. Die Erfahrung hat sich ganz stark verinnerlicht, weil es sich | |
richtig angefühlt hat, während meine Homosexualität sich ansonsten falsch | |
anfühlte.“ | |
Mike wächst in Ostdeutschland auf. In seiner Familie, bei seinen Freunden, | |
in seinem Ort ist es verpönt, schwul zu sein. | |
Du brauchst 'ne Freundin | |
Mike denkt zu dieser Zeit nicht daran, dass er hebephil sein könnte. Das | |
wird ihm erst später klar. Als Junge steht er eben auf gleichaltrige Jungs | |
– auch das wagt er sich nicht einzugestehen. „Ich erinnere mich an einen | |
Moment, da saß mein Vater auf dem Balkon, und unten auf der Straße gingen | |
zwei Männer Händchen haltend vorbei. Er sagte: Da sind die schwulen Säue“, | |
erzählt Mike. Es macht ihm Angst. Davor, dass der Vater das Leben des Sohns | |
ablehnen würde. Mike entwickelt Angst vor Erwachsenen. Er hat das Gefühl, | |
er ticke nicht richtig. Hat Selbstzweifel, ist schüchtern. Will doch nur | |
eins: normal sein. Mit seiner Homosexualität bleibt er allein. Mike hat | |
wenig Freunde. | |
„Ich weiß noch, wie ich im Bett lag und gedacht hab: Du musst jetzt leben | |
wie die anderen. Du brauchst ’ne Freundin“, erzählt Mike. Er findet | |
tatsächlich eine Freundin. Verliebt sich sogar ein bisschen; nicht so, wie | |
heterosexuelle Jungs sich in Mädchen verlieben. Es fehlt die Lust. Aber | |
Mike lernt die Nähe zu einem Menschen schätzen, eine Beziehung zu führen. | |
Dann lernt Mike Max* kennen. | |
Mike ist damals 23 Jahre alt, Max 15. Sie unternehmen Ausflüge, fahren | |
Fahrrad, gehen baden, feiern. Werden Freunde. Max wird Mikes erste Liebe. | |
Er erzählt gern davon, es geht leicht, und doch steckt darin ein Schmerz: | |
„Ich hab sozusagen zwei Leben gelebt. Meine Freundin wusste nichts davon. | |
Ich hab Max dann einen Brief geschrieben und erzählt, was ich fühle. Er gab | |
ihn mir zurück und sagte, die Freundschaft sei ihm total wichtig. Gefühle | |
wie ich habe er aber nicht.“ | |
Eine Woche später küsst Max Mike auf einer Party. Verwirrung. Wenig später | |
fahren sie zelten. Mike und Max fassen sich an, aber Mike merkt, dass Max | |
das zwar schön findet, aber nicht wirklich darauf steht. Mike bricht den | |
Kontakt ab. Zu schmerzhaft wäre es, weiter mit Max befreundet zu sein. | |
„Dann hat meine Freundin den Brief gefunden, den ich Max geschrieben | |
hatte.“ Sie trennen sich. „Es tut mir heute noch leid, wie sehr ich ihr | |
wehgetan habe“, sagt Mike. | |
Die nächsten Jahre sind schwierig. Mike plagen Schuldgefühle und | |
Selbsthass. In dieser Zeit schaut er sich im Internet häufig | |
kinderpornografische Seiten an. Für ihn ist es eine Flucht in die | |
Erinnerung an seine erste sexuelle Erfahrung als 14-Jähiger. An die Zeit, | |
als er sich begehrt, schön und richtig fühlte. Mikes sexuelle Neigung nimmt | |
viel Platz in seinem Kopf ein. Er zieht sich zurück, wie so viele, die | |
pädophile oder hebephile Neigungen verspüren. | |
Bin ich mehr als meine Neigung? | |
Vereinsamung und Isolation wiederum erhöhen das Risiko, dass Menschen | |
Straftaten begehen, sagt Jens Wagner vom Präventionsnetzwerk. Mike erzählt: | |
„Man reduziert sich auf die Neigung. Man fühlt sich krank und kann nichts | |
dagegen tun. Man kann Nettigkeiten nicht annehmen, weil man sich als | |
Monster empfindet. Dann schaut man sich die Videos an und blockiert das | |
Negative, das von außen kommt.“ | |
Zwei Wochen nachdem Mike im Büro Jens Wagners das erste Mal von sich | |
erzählt, sitzt sein Ehemann David* in der Parkanlage der Charité auf einer | |
weißen Holzbank. Am Morgen hatte es in der Hauptstadt geregnet, nun kämpfen | |
sich Sonnenfetzen zwischen den Wolken hervor. David und Mike sind seit 13 | |
Jahren verheiratet. „Wie ich ihn wahrgenommen habe, bei unserem ersten | |
Treffen?“, fragt David. Er macht eine Pause. „Extrem liebevoll. Warmherzig | |
und total interessant. Eine treue Seele.“ David ist ein groß gewachsener | |
Mann Ende zwanzig. Hebephil ist er nicht. Er wuchs wie Mike in | |
Ostdeutschland auf. Zu seiner Homosexualität bekennt er sich schon als | |
Jugendlicher – in der Schülerzeitung. Er bekommt dafür Anerkennung von | |
seinen Mitschülern und Lehrern. | |
Kurz nachdem David mit Mike zusammengekommen ist, findet er Videos mit | |
kinderpornografischen Inhalten auf Mikes Laptop. Mike hat schreckliche | |
Angst, verlassen zu werden. David bleibt. Er verlangt, dass Mike seiner | |
Familie von der Neigung erzählt und eine weitere Therapie macht. Mike sagt | |
heute: „Das war der größte Liebesbeweis, den man mir machen konnte. Auf | |
einmal habe ich gemerkt, dass ich doch nicht nur die Neigung bin. Dass ich | |
trotzdem liebenswert bin.“ | |
Das war der Punkt, an dem Mike das erste Mal anfing, über seine Neigung zu | |
sprechen, der erste Tag eines langen Prozesses. Im Wartezimmer des | |
Therapiezentrums fühlt Mike sich komisch. Er denkt: Jetzt bin ich also | |
wirklich gestört. Wirklich das Monster, von dem alle reden. Bei diesen | |
Gedanken setzt die Therapie an. | |
Die Therapie will vermitteln, dass niemand für seine Neigung verantwortlich | |
ist – aber jeder lernen muss, mit ihr verantwortungsvoll zu leben. | |
Wenn David weg ist, sucht Mike heimlich Pornos | |
„Die Sexualpräferenz entsteht in einem Mischgeschehen aus biologischen | |
Dispositionen und sozialisatorischen Prägungen, die auf der psychologischen | |
Ebene zu einer jeweiligen Ausprägung führen“, erklärt Dr. Christoph Ahlers, | |
Mitbegründer des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“. „Bisher gibt… | |
noch keine hinlängliche wissenschaftliche Erklärung dafür, wie genau | |
Besonderheiten der Sexualpräferenz zustande kommen“. Das heißt aber nicht, | |
dass man nicht in der Lage wäre, verantwortungsvoll damit umzugehen. Man | |
kann lernen, sich zu kontrollieren. | |
Mikes Zustand bessert sich. Jeder Tag ohne Videos ist ein Erfolg. Er findet | |
sein Selbstwertgefühl wieder. Um Mike zu helfen, kontrolliert David ihn. | |
Sie schließen beispielsweise das „olle Modem weg“, wenn David nicht da ist, | |
gehen nur gemeinsam ins Internet. Sie installieren eine Software, die die | |
Seiten sperrt, auf denen Mike sonst seiner Neigung Futter gab. | |
Doch manchmal, wenn David das Haus verlässt, umgeht Mike die Sperrung. „Auf | |
der einen Seite gab es den Mike, der keiner Fliege was zuleide tun könnte, | |
den liebevollen Sohn und umsichtigen Ehemann. Auf der anderen Seite den | |
Mike, der fürchterlich geweint hat, aus blanker Verzweiflung.“ | |
Mike macht eine zweite Therapie. Er lernt, sich Hilfe zu suchen, wenn er | |
spürt, dass er schwach wird. David sagt: „Dazu musste ich mich auch öffnen | |
und sagen: Wenn was ist, komm zu mir.“ | |
Seit vier Jahren schaut Mike keine Videos mehr. Wenn es ihn überkommt, wenn | |
es wirklich nicht anders geht, nimmt er Bilder von Kindern am Strand zur | |
Hand, von denen er weiß, dass niemand missbraucht wurde, als sie | |
entstanden. Loswerden wird er die Neigung nie. | |
Am Abend bricht Mike aus dem Büro im Hinterhof auf. Vor dem Abschied sagt | |
er: „Wenn ich merke, ich hab ein soziales Netz und Menschen, die mich | |
lieben, dann kann ich die Neigung gut unterdrücken. Wenn ich das aber nicht | |
hätte, dann weiß ich nicht, ob ich nicht wieder rückfällig würde.“ | |
*Name geändert | |
30 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Kücking | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Pädophilie | |
Sexualität | |
Portrait | |
Liebe | |
Therapie | |
Kindesmissbrauch | |
Sex | |
Kinderschutz | |
Pädophilie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Finanzierung von Pädophilie-Prävention: Kein Geld für Kinderschutz | |
Das Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ bietet Therapie für Pädophile | |
als Kassenleistung. Doch die privaten Versicherungen wollen nicht zahlen. | |
Debatte Männliche Sexualität: Fälle von Menschenersatznähe | |
Pornosüchtig, objektophil, aufdringlich – männliche Sexualität weist eine | |
obskure Originalität auf. Warum wir empathisch darüber sprechen sollten. | |
Recherche zu Kinderprostitution: Anonyme Täter | |
Eine neue Studie korrigiert das Profil der Straftäter. Er sind nicht die | |
viel geschmähten Pauschaltouristen, sondern eher Geschäftsreisende. | |
Pädophilie in Kreuzberg: Was keiner wissen durfte | |
Im Kreuzberg von heute sieht man es kaum. In den 80er Jahren wurden hier | |
Kinder missbraucht. Die Täter kamen oft aus dem alternativ-grünen Milieu. |