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# taz.de -- Goethe-Medaille für indische Feministin: Wider die aggressive Mask…
> Urvashi Butalia hat als Erste die Auswirkungen der traumatischen Teilung
> Pakistans von Indien auf Frauen untersucht.
Bild: Die Autorin bei einer Veranstaltung im Jahr 2006 in der Literaturwerkstat…
„Wir Inder haben nicht aus unserer Vergangenheit gelernt. Dazu hat stark
beigetragen, dass wir uns nicht an die Teilung Britisch-Indiens erinnern
und darüber nicht sprechen wollen“, sagt die indische Verlegerin und
Autorin Urvashi Butalia. „Wir möchten nicht an die schreckliche Gewalt von
damals denken.“
Als sich Mitte August 1947, also vor 70 Jahren, die Briten aus dem
Subkontinent zurückzogen und dieser in ein mehrheitlich hinduistisches
Indien und ein mehrheitlich muslimisches Pakistan geteilt wurde, flohen
rund 20 Millionen Menschen aus ihrer Heimat in den jeweils anderen Teil.
Bei der folgenden religiös motivierten Gewalt wurden bis zu einer Million
Menschen getötet und rund 75.000 Frauen vergewaltigt.
Die 65-jährige Urvashi Butalia, die am Montag in Weimar zusammen mit der
libanesischen Schriftstellerin Emily Nasrallah und der russischen
Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa mit der Goethe-Medaille des
Goethe-Instituts ausgezeichnet wird, hat sich in Indien und Pakistan einen
Namen gemacht, weil sie als Erste die Auswirkungen der traumatischen
Teilung des Subkontinents auf Frauen untersucht hat. Ihre eigene Familie
stammt aus Lahore im heutigen Pakistan, wohin Butalia 1987 erstmals reiste.
Sie interviewte rund 70 Personen in beiden Ländern und schrieb deren Oral
History auf. In zehnjähriger Arbeit entstand daraus das heutige
Standardwerk „The Other Side of Silence“ (deutsche Ausgabe: „Geteiltes
Schweigen. Innenansichten zur Teilung Indiens“, Lotos Werkstatt Berlin,
2015). Darin zeigt Butalia, wie die damaligen Gewalterfahrungen noch
heute tabuisiert werden und weiterwirken. 1947 töteten sich Frauen selbst
oder wurden von männlichen Verwandten umgebracht, um nicht von Angehörigen
der damals plötzlich als verfeindet angesehenen Religion vergewaltigt zu
werden. In ihrem Buch schildert Butalia die Geschichte einer Frau, die nur
überlebte, weil der Brunnen, in den sie mit der Absicht der Selbsttötung
gesprungen war, bereits über den Wasserspiegel hinaus mit Frauenkörpern
gefüllt war.
## Frauen nicht als Bürgerinnen wahrgenommen
Die Gewalt habe damals eine Massenbasis gehabt und sei deshalb nicht direkt
mit der heutigen religiös motivierten Gewalt hindunationalistischer
Fundamentalisten zu vergleichen, sagt Butalia im Gespräch mit der taz.
Heute drohe Andersgläubigen der Tod durch Lynchen, wenn sie angeblich
Rindfleisch gegessen hätten. Kühe sind Hindus bekanntlich heilig. Aber wie
damals erzeuge diese Gewalt, die heute kaum beachtet werde, Spannungen und
Ängste in der Gesellschaft. „Intoleranz und Hass werden so alltäglich“,
sagt Butalia.
Als liberale, aus der Oberschicht stammende Feministin, die unter anderem
in England studierte, hat Butalia Probleme mit der hindunationalistischen
Regierungspartei BJP von Ministerpräsident Narendra Modi: „Deren Ideologie
richtet sich gegen Frauen.“ Sie würden nicht als Bürger, sondern allenfalls
als Mütter, Schwestern und Töchter wahrgenommen, deren wahrer Platz im Haus
sei. „Die Haltung der Hindunationalisten gegenüber Frauen ist sehr
paternalistisch, ihnen werden keine individuellen Rechte zuerkannt“, sagt
Butalia.
Als sie zu Beginn der 1980er Jahre bei Oxford University Press in Delhi
arbeitete, machte sie folgende Beobachtung: „Indien hat schon lange starke
Frauenbewegungen, aber das spiegelte sich nicht in Büchern wider. Die
wenigen Bücher, die es zu Frauenthemen gab, stammten von westlichen
Autorinnen.“ Die Verlagsleitung sah keinen Markt für feministische Bücher
und Frauenliteratur. Butalia gründete deshalb 1984 mit einer Freundin den
Verlag Kali for Women, Indiens ersten feministischen Verlag. Daraus ging
2003 der von ihr bis heute geleitete Verlag Zubaan hervor.
Zubaan heißt so viel wie Zunge, kann aber auch literarisch Stimme, Sprache,
Rede oder Dialekt heißen. Zubaan veröffentlicht etwa 30 Bücher im Jahr.
Wissenschaftliche Werke über Frauenthemen, Literatur von Frauen und Kinder-
und Jugendbücher. Oft steht am Beginn der Publikationsprojekte vor allem
der Wunsch, Frauen Gehör zu verschaffen.
Mit der Autobiografie des Hausmädchens Baby Halder (Baby Halder: „Kein ganz
gewöhnliches Leben“, Draupadi Verlag, Heidelberg, 2008. Original in
Bengali: 2004, Englisch von Urvashi Butalia, 2006) landete Zubaan einen
Bestseller, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Die Autorin
beschreibt, wie sie mit zwölf Jahren einen doppelt so alten Mann heiraten
musste, mit 14 erstmals schwanger wurde, ihren Mann, der sie fast
totgeschlagen hatte, mit 25 verließ und sich nach Delhi absetzte. Dort
arbeitete sie in ausbeuterischen Haushalten, bis sie an einen pensionierten
Professor geriet, der sie zum Schreiben ermuntert.
## Finanzierung durch einen Bestseller
„Bücher wie diese geben unserem Leben Bedeutung“, sagt Butalia und verhehlt
nicht, dass Zubaan mit dem Buch Geld verdient. So kann ihr Verlag, der sich
eher als gemeinnützige Organisation zur Verbreitung von Frauenliteratur und
-wissenschaft begreift, seine anderen Aktivitäten finanzieren, wie etwa
Workshops für potenzielle Autorinnen.
Als es im Dezember 2012 zur tödlichen Gruppenvergewaltigung einer Studentin
in einem Bus in Delhi kam und Frauen landesweit gegen Diskriminierung und
sexuelle Gewalt demonstrieren, ist Butalia ein wichtige Stimme des Protests
und Ansprechpartnerin der Medien. Im Interview mit der taz kritisierte sie
die unangemessenen Reaktionen der Regierung, zugleich wies sie die
Forderung vieler Demonstrantinnen nach der Todesstrafe für Vergewaltiger
zurück: „Bekanntlich kennen die meisten Vergewaltigungsopfer die Täter,
weil diese oft aus ihrem Umfeld, oft aus der eigenen Familie stammen.“
Die Todesstrafe mache es noch unwahrscheinlicher, dass Vergewaltigungen
durch Verwandte und Bekannte angezeigt werden. „Die angebliche Abschreckung
hätte also den gegenteiligen Effekt“, so Butalia. Die inzwischen
eingeführte Todesstrafe für Vergewaltigung lehnt sie weiter ab, kritisiert
aber, dass Vergewaltigung in der Ehe noch nicht strafbar sei. Auch sexuelle
Gewalt gegen Männer und Transsexuelle würden vom Gesetzgeber weiterhin kaum
beachtet. Positiv sei allerdings, dass seit 2012 sexuelle Gewalt in der
Öffentlichkeit zu einem Thema geworden sei. „Es wurde auch verstanden, dass
dies nicht nur ein ‚Frauenthema‘ ist, sondern alle angeht.“
Als eine der profiliertesten Stimmen der indischen Frauenbewegung sind ihr
Starallüren fremd. Zu ihren Stärken gehört auch, dass sie die Auswirkungen
von Indiens gesellschaftlichem Wandel auf Frauen mit bedenkt. Der taz sagte
sie 2013: „In den Städten gibt es ganz neue Berufe für Frauen, doch die
städtische Infrastruktur hält nicht Schritt, zumal viele neue Jobs nicht
klassisch von 9 bis 17 Uhr dauern.“ Urbanisierung, neue Medien und
veränderte Geschlechterrollen führten zu verstärkten Zusammenstößen mit den
Traditionalisten.
Indiens Ministerpräsident Narendra Modi gab sich zum diesjährigen 70.
Unabhängigkeitstag am 15. August gerade wieder besonders nationalistisch.
Butalia lehnt Modis Nationalismus ab. Sie spricht von „aggressiver
Maskulinität“ und dass Indiens Nationalisten zu Unrecht für sich
beanspruchen, zu entscheiden, wer zur Nation gehöre: „Wer hat denn das
Recht, mir zu sagen, ob ich ein ,guter' Inder bin oder nicht?“, fragt sie.
Der Umgang mit dieser heute wieder zunehmend aktuellen Frage führte bereits
1947 bei der Teilung des Subkontinents in die Katastrophe.
27 Aug 2017
## AUTOREN
Sven Hansen
## TAGS
Indien
Frauenrechte
Gleichberechtigung
Pakistan
Landwirtschaft
Sprache
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