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# taz.de -- 25 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: „Der Ungeist ist nicht vertri…
> Der NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler erinnert sich an die Pogrome in
> Rostock-Lichtenhagen. Und fragt: Woher kommt der rechte Hass in
> Deutschland?
Bild: Erinnerungen an den August 1992: Der Mob von Lichtenhagen liefert sich ei…
taz: Herr Daimagüler, die Bilder des brennenden Sonnenblumenhauses in
Rostock-Lichtenhagen gingen um die Welt. Was für eine Erinnerung haben Sie
an die Tage im August 1992?
Mehmet Daimagüler: Es war für mich ein Tiefpunkt. Denn mit den damaligen
Ereignissen endete mein Glauben, dass die bundesdeutsche Gesellschaft mit
der Zeit immer besser wird. Ich ging damals noch sehr naiv davon aus, dass
es eine Art Automatismus gibt hin zu einer offenen Gesellschaft, auf die
wir stolz sein können. Dass die Vielfalt in Deutschland immer mehr als
Bereicherung empfunden wird. Davon war ich überzeugt. Dann sah ich die
schrecklichen Bilder von Rostock-Lichtenhagen. Und plötzlich musste ich mir
die Frage stellen, ob dieses Land, in dem ich geboren bin, noch meine
Heimat sein kann.
Und wie haben Sie die Frage beantwortet?
Meine Schlussfolgerung war: Dieses Land ist zwar immer noch meine Heimat.
Aber ich muss mich engagieren, weil es eben nicht automatisch besser wird,
sondern nur, wenn sich Menschen im Großen wie im Kleinen dafür einsetzen.
Ich habe mich damals sehr stark politisiert.
Welche Bedeutung haben für Sie heute noch die damaligen pogromartigen
Ausschreitungen?
Ich reagiere bis heute sehr sensibel, wenn ich den Eindruck habe, dass
Politiker mit ihrer Sprache zündeln. Wenn beispielsweise ein Horst Seehofer
sich beim Politischen Aschermittwoch sagt, er werde „bis zur letzten
Patrone“ gegen die „Einwanderung in die Sozialkassen kämpfen“, reagiere …
höchst allergisch. Denn das sollten wir nicht vergessen: 1992 gab es nicht
nur die Neonazis, die mit Molotowcocktails das Sonnenblumenhaus angegriffen
haben, und es gab nicht nur den Mob, der dabeistand und applaudierte. Da
gab es außerdem einen Staat, der nicht in der Lage und vielleicht auch
nicht willens war, die angegriffenen Menschen zu schützen. Und es gab
Politiker aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, die so lange Stimmung
gegen Flüchtlinge gemacht haben, bis der Funken übergesprungen ist. Die
Angriffe waren auch eine Folge einer politischen Panikmache, die das Ziel
verfolgte, das Asylrecht im Grundgesetz auszuhöhlen.
Mit Erfolg.
Ja, das ist leider gelungen. Anstatt entschlossen gegen Rassismus
vorzugehen, wurde das Grundgesetz geändert. Damit wurde den Tätern recht
gegeben und den Angegriffenen, also den Flüchtlingen, Rechte abgeschnitten.
Glauben Sie, dass sich ein solches Pogrom wie in Rostock-Lichtenhagen
wiederholen könnte?
Ich glaube, dass die Menschen heute keine Politik mehr akzeptieren würden,
die zulässt, dass unter den Augen des Staates ein Flüchtlingsheim
abgefackelt wird. Da hat sich schon etwas verändert. Aber was es eben
leider immer noch gibt, sind Anschläge auf Flüchtlingsheime – und zwar
beinahe täglich.
Sie selbst haben die Nebenklage im Fall des fremdenfeindlich motivierten
Brandanschlags im Oktober 2015 im nordrhein-westfälischen Altena vertreten.
Ein gravierender Unterschied zu Rostock-Lichtenhagen ist, dass in Altena
eine Gesellschaft die Opfer nicht alleine gelassen hat. Die Stadt Altena
hat sich in wirklich jeder Hinsicht um meine Mandanten aufopfernd
gekümmert. Aber auch die Menschen in Altena, von der katholischen Gemeinde
bis zum Feuerwehrverein, haben meine Mandanten aufgenommen. Sie haben damit
eindrucksvoll ein Zeichen gesetzt: Diese beiden Männer, die das Haus
angezündet haben, repräsentieren uns in keiner Weise!
Sie sind auch Opferanwalt im NSU-Prozess. Sehen Sie Verbindungslinien zu
Rostock-Lichtenhagen?
Es ist der gleiche Ungeist, der sich hier zeigt. Außerdem gibt es einen
örtlichen Bezug: einer der NSU-Morde wurde in Rostock verübt. Das Opfer war
der Dönerverkäufer Mehmet Turgut. Darüber hinaus ist es ja so, dass das
NSU-Trio und sein Umfeld Anfang der 1990er Jahre radikalisiert wurde. Die
Neonazis haben das Gefühl bekommen, sie sind die Vollstrecker des Willens
einer schweigenden Mehrheit. Wir haben es damals versäumt, als westdeutsche
Gesellschaft bei der Wiedervereinigung klar zu sagen, die Migranten, die in
dieses Land eingewandert sind und es mitaufgebaut haben, die gehören dazu.
Sei es der türkische Stahlarbeiter im Ruhrgebiet oder der vietnamesische
Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR. Es gab ja kein Bekenntnis zu ihnen.
Das war fatal.
Was hat sich in den vergangenen 25 Jahren verändert?
Es hat sich etwas geändert – und zwar zum Besseren. Nach dem
Regierungsantritt von Rot-Grün 1998 haben wir ein neues
Staatsbürgerschaftsrecht bekommen. Das war sehr wichtig. Und mittlerweile
gibt es einen weitgehenden Konsens darüber, dass wir ein Einwanderungsland
sind. Auch das ist sehr positiv. Aber damit ist der Ungeist trotzdem noch
nicht vertrieben. Wir müssen weiter permanent wachsam sein. Es fällt uns
relativ leicht, die Taten von einzelnen Skinheads und Neonazis zu
verurteilen. Aber es fällt uns sehr schwer, offen und ehrlich in den
Spiegel zu blicken und zu überlegen: Woher kommt dieser Hass bei jungen
Leuten? Niemand wird als Nazi geboren.
In dieser Woche gibt es zahlreiche Gedenkveranstaltungen in Rostock.
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist bei keiner angekündigt. Haben Sie dafür
Verständnis?
Natürlich hätte ich es schön gefunden, wenn sie hingefahren wäre. Das wäre
schon toll gewesen. Aber wichtiger ist mir, dass die Bundeskanzlerin beim
Thema Flüchtlinge eine klare Haltung gezeigt hat. Sie hat sich nicht
weggeduckt, sondern den rechten Pöblern Paroli geboten. Das ist eben der
große Unterschied zu Helmut Kohl, der damals gesagt hat, er mache keinen
„Beileidstourismus“. Bei Kohl war auch ein unangenehmes geschlossenes
Weltbild dahinter. Das ist bei Angela Merkel zum Glück anders.
22 Aug 2017
## AUTOREN
Pascal Beucker
## TAGS
Schwerpunkt Rostock-Lichtenhagen
Schwerpunkt Rechter Terror
NSU-Prozess
Rechte Gewalt
Flüchtlinge
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