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# taz.de -- Auswilderung von Fischen in der Oder: Viele Stör-Manöver
> Der Stör ist seit Urzeiten in Deutschland heimisch. Aber vor 50 Jahren
> verschwand er aus der Oder. Lässt er sich wieder ansiedeln?
Bild: Cool Störy, Bro: ein junger Stör mit Markierung auf der Hand von Jörn …
ANGERMÜNDE/BERLIN taz | Kaum zehn Grad, Himmel bedeckt – perfektes Wetter
im Nationalpark Unteres Odertal in Brandenburg. Jörn Geßner hat die jungen
Störe aus Tankwagen in Wasserkübeln hinunter zum Ufer getragen. Nun steht
er in Fischerhosen bis zu den Knien im Wasser. Auch die Schulkinder vom
Einstein-Gymnasium in Angermünde dürfen ihre Fische in den Fluss setzen.
Sie sind heute Störpaten, jeder Fisch ist an der Rückenflosse markiert.
„Meiner kommt wieder!“, ruft ein Junge in dicker Jacke und roten
Gummistiefeln. Die Störe verschwinden in den blaugrauen Fluten.
Doch so einfach ist das nicht. Durch die intensive Fischerei in der Oder
„hat vermutlich jeder junge Stör mindestens zwei Mal ein Netz gesehen,
bevor er ins Meer hinauswandert“, sagt Geßner. Er ist Biologe am
Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei Berlin, 54 Jahre
alt, die grauen Haare raspelkurz. Wird einer der markierten Störe irgendwo
von Fischern oder Anglern gefangen und lebend wieder ausgesetzt, bekommt
Geßner eine Fangmeldung. So hofft er.
Für seine Arbeit kooperiert er mit Fischern im Odergebiet, dem Nationalpark
Unteres Odertal und der Gesellschaft zur Rettung des Störs, die er selbst
mitgegründet hat. Man könnte Geßner einen Stör-Nerd nennen: Seit über 20
Jahren erforscht er die Fische, schreibt Aufsätze über Themen wie die
Fettsäurezusammensetzung von Kaviar oder die Evolutionsgeschichte
verschiedener Störarten. Das Projekt zur Wiederansiedlung des Baltischen
Störs ist sein Lebenswerk.
Denn der Stör gehört zu Deutschland. Vor 200 Millionen Jahren, als die
Landmassen der Erde noch ein einzelner Kontinent waren, schwammen Störe
schon in ihren Flüssen. Massenaussterben, Kontinentalverschiebungen und
Klimakatastrophen konnten dem lebenden Fossil nichts anhaben. Er überlebte,
bis heute. Doch er hat neue Feinde: Überfischung, Kanalisierung und
Umweltverschmutzung.
## Späte Pubertät
Ende des 19. Jahrunderts zogen Störfischer jede Saison bis zu 10.000 Fische
aus der Unterelbe. Von dieser intensiven Fischerei konnten sich die
Bestände nicht mehr erholen. Dazu kam die Verbauung von Gewässern zu
monotonen Wasserstraßen. Wehre und Schleusen für die industrielle
Schiffahrt versperrten den Weg zu den Laichgründen. Von den neun historisch
belegten Laichplätzen sind nur noch vier oder fünf übrig geblieben. Seit
den 1970er Jahren gibt es in Deutschland keine Störpopulation mehr, die
sich selbst vermehrt. Die Fische gelten somit als ausgestorben.
Die 450 Störe, die aus den Schüsseln in den Fluss verschwinden, sind etwa
zehn Zentimeter groß und gräulich bis braun gefärbt. Störe haben keine
Schuppen und fühlen sich nicht glitschig an, sondern knorpelig.
Ausgewachsene Tiere können vier Meter lang und 60 Jahre und älter werden.
Ihr Leben verbringen sie auf Wanderschaft. Sie finden im Süßwasser nicht
genug Nahrung, also ziehen sie ins Meer zu den großen Futterquellen. Erst
als geschlechtsreife Tiere kehren sie zurück, um in den Gewässern ihrer
Geburt zu laichen. Bis dahin können zwanzig Jahre vergehen. „Störe sind
eher spätpubertierend“, lacht Geßner. Aber er ist geduldig. Mehr als eine
Million Jungtiere haben die Helfer in den letzten Jahren in der Oder
ausgesetzt.
## Der Ostseestör ist kein Europäischer Stör
Der Wissenschaftler sitzt in Jeans in seinem Büro, durchs Fenster sieht man
den Müggelsee. In einem Regal stehen neben Aktenordnern und Papierstößen
Exponate in Alkohol: „Ein Löffelstör vom Mississippi, drei kaspische
Störarten und kleine Ostseestöre“, stellt Geßner vor. Weltweit gibt es 27
Störarten, alle mehr oder weniger vom Aussterben bedroht. In Deutschland
waren hauptsächlich zwei Arten heimisch – der Baltische Stör und der
Europäische Stör.
„Historisch war man davon ausgegangen, dass der Ostseestör ein Europäischer
Stör ist“, sagt Geßner. Ganz so einfach ist das mit der Identität des Stö…
aber nicht. Kulturanthropologen stellten fest, dass der Ostseestör weniger
Knochenplatten hat. Weitere Untersuchungen zeigten dann: der aus
Nordamerika eingewanderte, kälteunempfindliche Baltische Stör hatte sich
während der letzten kleinen Eiszeit vor 1200 Jahren in der Ostsee gegen den
Europäischen Verwandten durchgesetzt.
## Elterntiere aus Kanada
Solche Nationalitätsfragen sind für Geßner wichtig. Denn ausgewilderte
Arten müssen sich für ihren Lebensraum eignen, das schreibt der Naturschutz
vor: Der Baltische Stör gehört in die Oder, der Europäische in die Elbe.
Also mussten zwei Elterntierbestände aufgebaut werden. Für die Oder wurden
zwei Meter große Elterntiere und Laich aus einer Fischerei in Kanada
eingeflogen. „Bei den großen Tieren war das spannend“, schwärmt Geßner,
„jeder Fisch einzeln mit Sauerstoff und Wasser in Alukisten.“ Inzwischen
wird der Baltische Stör in Deutschland gezüchtet.
Klaus-Peter Gensch, brandenburger Fischer in dritter Generation, ist einer
der Züchter. Von seinem Teichhof in Angermünde fahren Tankwagen mit den
Stören an die Oder. In länglichen Brutbecken schwimmen Jungstöre, es riecht
nach Fisch und modrigem Flusswasser.
## Fischer sind Friends
Während die Wiederansiedlung des Störs für den Wissenschaftler Geßner ein
Traum ist, ist sie für Gensch vor allem ein Job. Das Projekt bedeutet harte
Arbeit, in den ersten Wochen mehr als zwölf Stunden am Tag. Dreimal täglich
muss er die Becken reinigen, um Infektionen zu vermeiden. „Das ist wie bei
kleinen Kindern“, sagt Gensch. Jede Stunde bekommen die Störe einen
kompletten Wasserwechsel mit sauerstoffreichem Wasser aus der Welse, einem
Nebenfluss der Oder. Das ist wichtig, die Tiere orientieren sich später bei
der Rückwanderung am Geschmack und Geruch des Heimatwassers. Zu fressen
gibt es Salinenkrebse und Zuckmückenlarven.
Für den Biologen Geßner ist klar, dass sich der Aufwand lohnt. „Es gibt nur
noch 35 Flussfischarten in Deutschland“, sagt er energisch. Störe sind
Bioindikatoren für naturnahe und gesunde Ökosysteme. Die Verbesserung ihres
Lebensraumes hilft auch anderen Arten. Und der Stör hat eine
kulturhistorische Bedeutung. „Er war Nahrungsmittel und Eiweißlieferant
ganzer Generationen“, sagt Geßner.
## Wie gestört kann man sein?
Er kramt in einer Schublade und findet ein Foto. Ein toter Stör, bestimmt
zwei Meter lang, hängt als Trophäe auf einem Spielgerüst. Ein
Schleusenwärter im Oderbruch hat das Bild an Geßner weitergegeben. „Bei
seiner Größe war der Stör auf jeden Fall schon in der Ostsee“, sagt Geßner
empört. “Wenn die ersten Rückkehrer gleich angelandet und getötet werden,
ist das nicht im Sinne des Erfinders!“
Um das zu vermeiden hält Geßner Kontakt zu Anglerverbänden und Fischern in
der Region, überzeugt sie, Störfänge zu melden und den Stör wieder
freizusetzen. Inzwischen hat er aber auch schon viele gute Nachrichten
bekommen: Zum Beispiel Meldungen aus Schweden vom Bottnischen Meerbusen,
1200 Kilometer entfernt.
## Der Kantinenstör, ein Politikum
„Angler haben Sympathie für verschollene Arten wie Stör, Schnäpel und
Lachs“, sagt Ulrich Thiel vom Landesanglerverband Brandenburg am Telefon.
Der Verband hat sich für eine ganzjährige Schonzeit des Störs eingesetzt.
„So was wie den Kantinenstör will keiner erleben.“
Der „Kantinenstör“ war der wohl politischste aller deutscher Störe. Er
wurde 1993 vor Helgoland gefangen und illegal auf dem Cuxhavener Fischmarkt
verkauft. Freilebende Störe standen unter Naturschutz und durften nicht
gefangen werden. Wie sich später herausstellte, war er einer der letzten
reproduktionsfähigen Europäischen Störe in Deutschland – und landete als
Leckerbissen ausgerechnet in der Kantine des Bundesinnenministeriums in
Bonn.
Dieses Schicksal will Jörn Geßner seinen frisch ausgesetzten Tieren
natürlich ersparen, sie sollen sich vermehren – selbstständig, ohne Zutun
des Menschen. Solange noch nicht nachgewiesen ist, dass sie das wirklich
tun, gelten sie weiterhin als ausgestorben.
3 Sep 2017
## AUTOREN
Natalie Stöterau
## TAGS
Flüsse
Ostsee
Fische
Biodiversität
Schwerpunkt Klimawandel
Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
Patente
Tiere
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