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# taz.de -- Zensur auf Instagram: Wer bestimmt, was Nacktheit ist
> Instagram löscht Fotos ohne Begründung. Viele UserInnen fühlen sich
> zensiert, die Kriterien erscheinen oft beliebig – Nippel und Haare sind
> tabu.
Bild: Nicht nackt, aber zu haarig: Instagram zensiert seine Nutzer beliebig
Kürzlich erschien auf bento.de, der Nachrichtenseite Spiegels für die 18-
bis 30-Jährigen, das Foto eines Mädchens, das ihr Gesicht mit einer Lilie
verbirgt, dessen Oberkörper aber unverhüllt ist, sodass die Brust zu sehen
ist, davor ein auf sie selbst gerichtetes Smartphone.
Dieser Art sind Zigtausende Bilder, die täglich auf Instagram hochgeladen
werden, einem kostenlosen Onlinedienst zum Teilen von Fotos und Videos aus
dem Alltagsleben. Das auf visuelle Inhalte konzentrierte soziale Medium,
das weltweit über 500 Millionen User erreichen soll, erschien der Firma
Facebook 2012 so werbetauglich, dass sie seinen Garagen-Betreibern für den
Erwerb fast eine Milliarde Dollar zahlte.
Scrollt man das Bild weiter, erweitert sich die den Oberkörper zeigende
Halbtotale des Mädchens auf ihren Unterleib, wo ein Ansatz von Schamhaar zu
sehen ist. Dieses Bild wurde von Instagram offenbar aussortiert oder, wie
es eine Publikation des Prestel Verlages bewertet, zensiert. „Pics or It
didn’t happen“ ist der Band betitelt. Er versammelt Fotos, die Instagram
seinen meist ungelesenen Geschäftsbedingungen gemäß nicht zeigen mag, weil
sie „gewalttätige, nackte, teilweise nackte, diskriminierende,
ungesetzliche, verletzende, abscheuliche, pornografische, sexuell
stimulierende“ Szenen zeigen.
Spontan möchte man zustimmen, wie gut es ist, solche Restriktionen
einzubauen, anders als im Darknet mit seinen ekligen Gewalt-, Missbrauchs-
und Kinderpornografie-Ecken. Die Herausgeberinnen des Bandes, Arvida
Byström und Molly Soda, interessieren indessen die Kriterien, nach denen
ein in den Vereinigten Staaten beheimateter, überwiegend aber außerhalb der
USA genutzter Onlinedienst bestimmt, was Nacktheit ist, was eine
Diskriminierung darstellt, warum etwas gegen welches Gesetz verstößt, wo
Gewalt einsetzt, was wen sexuell anmacht und so weiter.
Diese Auswahlkriterien bleiben implizit, sie liegen im Auge der Zensoren.
Byström und Soda halten den Eingriff, der praktisch von Tausenden meist in
Manila oder Bombay tätiger Hilfsarbeiter ausgeführt wird, für Zensur und
können mit dieser Auswahl ausgeschiedener Fotos belegen, wie willkürlich
die Grenzen oftmals sind und wie die fällige Aushandlung über das gerade
noch Erlaubte hier mit einem Löschbefehl unterbrochen und erledigt wird.
Und wie dehnbar und unverhandelbar ästhetische Kriterien letztlich sind.
## Heute Menschenrecht
Die Grenzen der Darstellbarkeit, sei es durch die Hemmschwellen der
Produzenten, Aktmodelle und Betrachter, sei es qua Zensur und
Sittenpolizei, sind seit der Antike ein Dauerthema der europäischen Kunst.
Interessant ist, wie sich seit der Erfindung des World Wide Web die Arena
dieser Aushandlung gedreht und die Definitionsmacht gewandelt hat. Die
Nutzer sozialer Medien sehen es heute als ihr gutes, fast absolutes Recht
an, eigene Nacktheit und Intimität auszustellen, eventuell auch die von
Partnern oder gänzlich Fremden, die mit im Bild sein mögen.
Was einmal als schamlose Selbstdarstellung galt, die man nicht nur vor
Kinderaugen zu verbergen hatte, gilt ihnen als eine Art Menschenrecht,
dessen Beschränkung durch die AGB einer Privatfirma sie voller Empörung
skandalisieren. War das Nacktfoto von Prominenten, die besonders
begehrenswert, schön und sexy wirkten, einmal die Trophäe der Paparazzi,
hält sich heute jedermensch für vorzeigbar und stellt sich aus. Als
Tabubruch gilt nicht mehr das Zeigen von Geschlechtsmerkmalen und mit
körperlicher Sexualität verbundenen Bildern, sondern dessen Verhinderung
oder Beschneidung durch Dritte. Vor allem wird die Praxis von Instagram
kritisiert, dass Nutzer nach der Entfernung ihres Bildes nur eine
Standard-Benachrichtigung mit der Information bekommen, dass es gegen die
Richtlinien verstößt, ohne mitzuteilen, welches Bild genau betroffen war.
Instagram-Nutzer beschweren sich bereits länger unter dem Hashtag
#freethenipple, es würden Bilder wahllos herausgefiltert, ohne dass darauf
immer verbotene Inhalte zu sehen seien. Instagram erlaube alle Arten von
Nacktheit, solange die Brustwarzen verdeckt sind, wofür es seit dem
Auftritt von Janet Jackson beim Super Bowl 2004 den Ausdruck „Nipplegate“
gibt. Die USA gelten als besonders prüde, obwohl dort eine ausufernde
Pornoindustrie beheimatet ist.
## Doppelmoral des Paradoxons
Die Schauspielerin Scout Willis wollte 2014 mit einem Oben-ohne-Auftritt
auf New Yorker Straßen die Doppelmoral des Paradoxons enthüllen, dass sich
Pornodarstellerinnen in anzüglichen Posen auf Instagram präsentieren
dürfen, während Bilder von Brustkrebspatientinnen gelöscht werden. Auch
erregen behaarte Körper bei Instagram mehr Anstoß als glattrasierte.
Der im renommierten Prestel Verlag erschienene Kunstband, der
herausgefilterte Bilder nun ebenso wahllos publiziert, erwuchs aus dem
Protest. Die beiden Herausgeberinnen sind in den USA lebende Künstlerinnen,
die ihre Aufgabe nicht darin sehen, neue Kunstwerke zu produzieren, sondern
die Autoproduktion ästhetischer Artefakte zu reflektieren, wie sie sich
derzeit in sozialen Medien millionenfach ereignet, und diesem Wunsch
angemessene Ausdrucksmöglichkeit zu verschaffen. Die Sammlung bezeichnen
sie als eine Zeremonie der verlorenen Bilder und einen Friedhof der Zensur
Ihrem Aufruf folgten über 200.000 Menschen und sandten von Instagram
entfernte Fotos ein. Die meisten waren Selfies weißer, junger Frauen in
privater Atmosphäre, deren Zensurwürdigkeit sich in vielen Fällen in der
Tat kaum erschließt, in anderen aber je nach Gusto selbstevident zu sein
scheint – wobei das Ziel dieses Bandes sein müsste, für die Grenzen des
Sichtbaren ebenso Kriterien vorzuschlagen wie für die Grenzen des Sagbaren,
womit sich der Mutterkonzern Facebook angesichts von Millionen
Hasskommentaren, volksverhetzenden und rassistischen Äußerungen und
politischer Fake News gerade zu beschäftigen hat und Juristen halbwegs
anwendbare Maßstäbe zu entwickeln suchen.
Was kann als „gefährlich“ gelten, und was ist ein relativ „sicherer“
Inhalt, dessen Verbreitung keinen Schaden anrichtet? Wo endet die Kunst-
und Meinungsfreiheit? Gibt es keine Grenzen des Narzissmus?
Dieses Aktionsbuch hat zwei schwerwiegende Defizite. Zum einen beschränkt
es Kritik auf die in der Tat problematischen, weil intransparenten und mit
einem kulturellen US-Bias versehenen Selektionsprozesse durch Instagram,
lässt aber die Interaktion mit einem zeigefreudigen, exhibitionsgeneigten
Publikum außen vor, ohne die Instagram ein Nichts wäre.
Das heißt: es verkennt die in der Bildenden Kunst, im Film und in der
einmal „Aktfotografie“ genannten Grauzone zwischen Kunst und Pornografie
eingeschriebene Beziehung zwischen Voyeurismus und Exhibitionismus. Zum
anderen bleibt die Dokumentation unhistorisch an der aktuellen Aushandlung
in den sozialen Medien hängen, statt die lange Debatte über ideale,
stilisierte oder eben schockierende und erregende Nacktheit in der Kunst
und in visuellen Alltagsmedien zu reflektieren. Es fehlen ihr schlicht die
Maßstäbe.
Die Menschen, die heute intime Selfies anfertigen und einem
unüberschaubaren Publikum ausstellen, betrachten ja auch die unbekleideten
antiken Götter, Michelangelos makellosen David, die üppigen Nackten des
Barock oder Egon Schieles drastische Akte. Oder stellen sie nur sich selbst
davor in Pose?
5 Aug 2017
## AUTOREN
Claus Leggewie
## TAGS
Instagram
Zensur
Nacktheit
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