# taz.de -- taz-Serie Lieblingskiez: Soldiner Straße: Eine Straße im Schwebez… | |
> Die Soldiner galt mal als die härteste Straße in Gesundbrunnen. Längst | |
> traut sich auch der Prenzlauer Berg rüber. Das bringt neue Probleme mit | |
> sich. | |
Bild: Wie ist die Lage im Kiez? Szene aus der Soldiner Straße in Gesundbrunnen | |
Einmal, sagt Thomas Kilian, sei ein Reporter einer Berliner Tageszeitung in | |
die Soldiner Straße gekommen: Er habe gehört, wenn man oben im | |
Doppeldeckerbus die Straße entlangfahre, könne man vom Oberdeck aus die | |
illegalen Glücksspielsalons in den ersten Stockwerken der Häuser sehen. | |
Kilian muss immer noch lachen, wenn er an die Geschichte denkt. Offenbar | |
hatte sich jemand auf Kosten des gutgläubigen Reporters einen Scherz | |
erlaubt. „Es gibt ja nicht mal einen Doppeldeckerbus, der die Soldiner | |
runterfährt.“ | |
Die Geschichte, die der Reporter schreiben wollte, hätte so schön in ein | |
Klischee gepasst, das allerdings schon ein bisschen Patina angesetzt hat: | |
der Gesundbrunnen als schwieriges Pflaster, und die Soldiner als seine | |
härteste Straße. Jugendkriminalität und mafiöse Großfamilien hießen die | |
Schlagwörter der 1990er und 2000er Jahre, erinnert sich Kilian. Der | |
studierte Soziologe, Berufsunfähigkeit mit 35 – Selbstbeschreibung: „Typ | |
abgehängtes Bürgertum hier im Kiez“ –, wohnt seit 20 Jahren im Viertel. | |
Sein Soldiner Kiezverein e. V. arbeitet eng mit dem örtlichen | |
Quartiersmanagement zusammen und bietet „Begegnungsangebote“ für die | |
Bewohner an. Zum Beispiel das alle zwei Wochen stattfindende „Kiezpalaver“, | |
das zugleich Lobbyarbeit für den Kiez nach außen ist. | |
Kilian steht da, wo die Soldiner am ungemütlichsten ist, an der Ecke | |
Koloniestraße. Hier, am längeren Ende der Straße westlich der Prinzenallee, | |
hat die Kahlschlagsanierung der 1970er Jahre besonders hässliche Narben im | |
Altbauensemble hinterlassen. Vor einer Kneipe hocken vormittags zwei Männer | |
auf billigen weißen Plastikstühlen im Sonnenschein. Statt des zweiten | |
Kaffees gibt es eine zweite Runde Bier. Nicht weit von ihnen hängt der | |
Spritzenautomat für die Junkies. | |
Und doch: Vor der Soldiner fürchtet sich heute nicht mal mehr der | |
angrenzende Prenzlauer Berg. Deren Bewohner – vor allem die jungen Familien | |
– zieht es seit einigen Jahren in den Kiez: Die Wartelisten auf einen | |
Kita-Platz sind hier oft etwas weniger aussichtslos als jenseits der | |
„Bösebrücke“ am nahen S-Bahnhof Bornholmer Straße. Es gibt Stuck und | |
abgezogene Dielen in den noch immer erschwinglichen Altbauwohnungen – der | |
Mietspiegel weist die komplette Straße als „einfache Wohnlage“ aus. Seit | |
Neuestem gibt es sogar Milchkaffee und homemade cake, bei Herr Bielig und | |
im Café Kakadu. | |
## Trinkertreff und hippe Cafés | |
„Es ist sehr entspannt hier“, sagt die Kellnerin im Kakadu. Das hat seit | |
Kurzem nicht nur am Wochenende geöffnet und inzwischen genauso viele Tische | |
auf dem Bürgersteig draußen wie der türkische Bäcker zur linken und der | |
Trinkertreff zur rechten Seite. | |
„Der Kiez ist kein In-Viertel, aber die Aufwertungsprozesse sind | |
unübersehbar“, sagt Kilian. Da sind die Cafés, in denen der kleine | |
Cappuccino 2,50 Euro kostet. „Auch der Parkraum wird knapper, das fällt | |
auf“, sagt Kilian. Und dass die Automarken teurer würden. | |
Kilian erzählt, was ihm die Anwohner berichten, die in seinen Kiezverein | |
kommen: „Viele haben hier noch relativ alte, günstige Mietverträge. Aber | |
das Umziehen innerhalb des Kiezes wird schwieriger.“ Familien mit vielen | |
Kindern und ältere Leute mit knapper Rente stellt das vor Probleme. Im | |
Soldiner Kiez stieg zuletzt laut Statistischem Landesamt die Zahl der | |
Haushalte mit vier und mehr Personen. 14 Prozent der über 65-Jährigen leben | |
von Grundsicherung – fast dreimal mehr als der berlinweite Durchschnitt. | |
Neulich haben sie einen Rentner an den Stadtrand nach Marzahn | |
verabschiedet, erzählt Kilian, den anderen nach Spandau. Der Soldiner Kiez | |
ist noch nicht Milieuschutzgebiet, wurde von der zuständigen | |
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung aber als Beobachtungsgebiet | |
eingestuft. Dem Gebiet wird ein hohes Verdrängungspotenzial bescheinigt, | |
schreibt das örtliche Quartiersmanagement in seinem „Handlungs- und | |
Entwicklungskonzept“. Doch der „bauliche Aufwertungsdruck“ fehle bisher. | |
Das ist das zweite Klischee, das seit Jahren mehr so als Gefühl die Runde | |
macht im Wedding: „Der Wedding, der kommt!“ Festgemacht wird das an Cafés | |
wie dem Kakadu oder Herrn Bielig, an der Zahl der gesichteten biodeutschen | |
Eltern mit Baby im Tragetuch vor der Brust, an den Studenten, die ihr | |
teures Fixie-Rad übers Kopfsteinpflaster schieben. Doch die Fakten zu | |
Mietpreisen und Armut im Kiez sprechen noch immer eine andere Sprache. Das | |
Bezirksamt Mitte bescheinigt der Region Osloer Straße, zu der der Soldiner | |
Kiez gehört, „stadtentwicklungspolitischen Interventionsbedarf“. | |
„Es gibt inzwischen einige Studenten, die hierbleiben und eine Familie | |
gründen – aber die unterschiedlichen Milieus berühren sich nicht wirklich�… | |
sagt Nicole Figge vom Kinder- und Jugendhilfeträger casablanca, der | |
verschiedene Angebote für Familien im Kiez macht: von der Krabbelgruppe und | |
Hausaufgabenhilfe bis zur stationären Wohngruppe für Kinder, die in ihren | |
Familien vernachlässigt oder missbraucht werden. Die Wohngruppen sind „gut | |
nachgefragt“, sagt die Leiterin der Einrichtung. | |
Figge schaut aus ihrem Büro direkt auf den Panke-Grünzug. Hübsch sieht es | |
aus, wie sich das Flüsschen im Sonnenlicht unter den Bäumen | |
entlangschlängelt, friedlich. „Viele sagen, hier sei es so schön | |
unaufgeregt, und ich glaube, das stimmt.“ Unaufgeregt, sagt Figge – „und | |
provisorisch.“ Sie meint damit die vielen Künstler, die hier im Kiez mal | |
ein, mal zwei Projekte lang in ihren kleinen Galerien arbeiten, die sie von | |
einer Wohnungsbaugesellschaft zu günstigen Konditionen bekommen. Oder Cafés | |
wie das Kakadu, die kommen und bei denen man noch sehen wird, ob sie | |
bleiben. | |
Das Grün, die Altbauten, die breiten Bürgersteige, die günstigen Mieten, | |
der ewige Charme des Unfertigen – die Soldiner Straße hat sehr viel von | |
diesem vielbesungenen Berlin-Gefühl, hinter dem alle her sind (vielleicht | |
minus die Aufgeregtheit). Klar, man sei hier ja auch eher schon „am äußeren | |
Rand der inneren Stadt“, wie es Kilian formuliert. Man kann es sich hier | |
also nett machen, insbesondere als junge Familie. | |
## Der Prenzlauer Berg ist nicht fern | |
In der Krabbelgruppe, die Figge leitet, sitzt Sophie Kuhn, ihre kleine | |
Tochter Minna auf dem Schoß. Kuhn, die eigentlich anders heißt, ist 2008 | |
von Prenzlauer Berg in die Soldiner Straße gezogen. Aus der Wohnung in der | |
Kopenhagener Straße mussten sie raus, die Entscheidung für den Ortsteil | |
Gesundbrunnen war dann eine bewusste: „Es war etwas Neues, die Mieten waren | |
günstiger, aber der Prenzlauer Berg ist nicht fern“, sagt Kuhn. | |
Allerdings sicherten sich Kuhn und ihr Lebensgefährte ab, einfach so | |
trauten sie sich dann doch nicht über die Bezirksgrenze. Bevor sie die | |
Wohnung in der Soldiner Straße nahmen, tingelten sie und ihr Freund durch | |
den Altbau, klingelten bei den Nachbarn. Sie fragten: Gibt es hier | |
Probleme, mit Drogen, mit Kriminalität? Nein, alles ganz easy hier, sagten | |
die Nachbarn, höchstens im Seitenflügel gebe es ab und an mal Stress. Kuhn | |
und ihr Freund gingen zu den Beamten des örtlichen Polizeiabschnitts und | |
fragten, wie es hier wirklich ist? Ein Beamter habe gesagt, wenn sie es als | |
Frau gut aushalten könne, dass sie auch mal blöd angemacht wird, dann solle | |
sie nur herziehen, erinnert sie sich. | |
„Ich bin dann nicht ein einziges Mal belästigt worden in all den Jahren“, | |
sagt Kuhn. Sie hat noch einen älteren Sohn, der im Sommer in der nahen | |
Wilhelm-Hauff-Schule eingeschult wird. In ihrer Kita, sagt die junge Frau, | |
schule inzwischen etwa die Hälfte der Eltern ihre Kinder hier im Kiez ein. | |
Die anderen ziehen aus Angst vor den hohen Migrantenquoten an den | |
Grundschulen, die zwischen 80 und 90 Prozent pendeln, rechtzeitig weg. | |
Vor dem Kakadu, auf dem nahen Spielplatz und in den Kitas sind die | |
biodeutschen Familien mit Kleinkindern mehr geworden. Die Berührungspunkte | |
mit den türkisch-arabischen Familien sind es nicht. In der Krabbelgruppe | |
heißen die Mütter Anne, Sandra, Anna und Sophie. Auf den Spielplätzen | |
spielen höchstens Ayşe und Amélie zusammen, auf den Bänken rund um den | |
Sandkasten haben sich deren Mütter nichts zu sagen. | |
Dass die Soldiner Straße noch längst nicht gentrifiziert ist, merkt man an | |
Blicken, die man erntet, wenn man sich mit dem Espresso Macchiato vors | |
Kakadu setzt. Man fällt damit noch aus der Reihe. Vor dem Döner Haus | |
nebenan sitzen die Eltern in der Morgensonne und trinken Pils, das im Buggy | |
angeschnallte Kind nuckelt an einem Stück Melone. | |
Die Gegensätze sind krasser geworden in den letzten Jahren. Der – momentan | |
noch – gefühlte Aufwertungsdruck verunsichert. Das Positive daran sei, | |
vermerkt das Quartiersmanagement in seinem Bericht: Das Interesse an echter | |
Nachbarschaft, an Zusammenhalt werde größer. | |
Auch Pfarrerin Veronika Krötke sieht in dieser Verunsicherung zugleich die | |
größte Chance für den Kiez. Krötke ist erst seit einem Jahr Pfarrerin in | |
der evangelischen Kirchengemeinde An der Panke, zu der die Soldiner Straße | |
mit ihrer Stephanus-Kirche gehört. Die Gemeinde kämpft, wie viele | |
Kirchengemeinden, mit Überalterung und sinkenden Besucherzahlen in den | |
Gottesdiensten. „Was hier noch als Problem dazukommt, ist eine gewisse | |
Tendenz, sich einzuigeln“, sagt Krötke. Es fehle in der Gemeinde „ein wenig | |
an Mut, mit dem, was uns im Kiez begegnet, kreativ umzugehen“. | |
Was der Gemeinde im Kiez begegnet, ist das: Die Christen im Soldiner Kiez | |
leben quasi in der Diaspora, rund 60 Prozent der insgesamt 38.000 | |
BewohnerInnen in der Bezirksregion haben einen Migrationshintergrund, die | |
meisten kommen aus der Türkei oder den arabischen Ländern. Die Pfarrerin | |
hat darüber nachgedacht, wie sie ihre Gemeinde aus der Reserve locken kann. | |
„Und ich glaube, wir müssen erst mal schauen: Wer ist denn eigentlich hier, | |
wer begegnet uns hier?“ | |
## Die Kirche öffnet sich | |
Also gibt es jetzt einmal im Monat Orgelmusik in der Stephanus-Kirche mit | |
einem gemeinsamen Essen im Anschluss. „Beim ersten Mal kamen 35 Leute, beim | |
zweiten Mal 80“, sagt Krötke. Also schließt die Pfarrerin einmal in der | |
Woche die Tür der Kirche auf: ganz verschiedene Menschen kämen da zur | |
offenen Kirchentür herein, sagt sie. Auch die Sinti und Roma, die in den | |
Sommermonaten ihr Lager vor der Kirche aufschlagen, halten Andacht in den | |
hölzernen Kirchenbänken. | |
Seit April steht auf dem Platz vor der Kirche zudem ein kleiner Bauwagen, | |
die „Landküche“ von Oliver Sartorius. Der gelernte Koch verkauft dort an | |
vier Nachmittagen in der Woche Bio-Brot, Eintöpfe und Currywurst vom | |
Märkischen Sattelschwein. Gegen eine kleine Pauschale versorgt ihn die | |
Kirche mit Strom und Wasser. „Es läuft“, sagt Sartorius. Die älteren | |
deutschen Damen kämen wegen der Currywurst, die türkischen | |
„interessanterweise wegen des Bio-Brots, denn das erinnert sie an das Brot | |
in der Türkei“. Ab September wollen Krötke und Sartorius einmal wöchentlich | |
eine Suppenküche anbieten. | |
Die Landküche, die auch Suppenküche ist. Die Phrase vom „Wedding, der | |
kommt“. Beides beschreibt einen gewissen Schwebezustand, ein Weder-noch, | |
das für die Soldiner Straße sehr wahr ist. | |
18 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
## TAGS | |
Berlin-Wedding | |
Kiez | |
Berliner Senat | |
Bildungspolitik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Auftakt zur taz-Serie Lieblingskiez: Meine Kneipe. Meine Molle. Mein Kiez | |
Die Berliner Kieze sind nicht totzukriegen. Trotz Gentrifizierung und | |
wachsender Stadt bieten sie auch Neuberlinern Orientierung. | |
Geplante Bürgerbeteiligung in Berlin: Die neuen Brückenbauer | |
Rot-Rot-Grün will die Bürgerbeteiligungstärken und Beteiligungsbeauftragte | |
einführen. Zuständig sind die Bezirke. Dort gibt es bereits einiges | |
Engagement. | |
Grundschulen in Berlin: Mischung? Kommt nicht in die Tüte! | |
Mitte weicht die sogenannte Sprengellösung bei der Einschulung weiter auf. | |
Das Projekt, das mehr soziale Durchmischung bewirken sollte, hat nicht | |
funktioniert. | |
Schulen in sozial schwachen Vierteln: Initiativen gegen den Fluchtreflex | |
Wie kann man der Bildungsabwanderung aus sozial schwachen Kiezen begegnen, | |
wenn selbst ausgefeilte pädagogische Angebote nicht überzeugen? | |
Elternnetzwerke könnten ein Lösungsmodell sein |