# taz.de -- Schulen in sozial schwachen Vierteln: Initiativen gegen den Fluchtr… | |
> Wie kann man der Bildungsabwanderung aus sozial schwachen Kiezen | |
> begegnen, wenn selbst ausgefeilte pädagogische Angebote nicht überzeugen? | |
> Elternnetzwerke könnten ein Lösungsmodell sein | |
Bild: Schulen in sozialen Brennpunkten kämpfen um eine ausgewogene SchülerInn… | |
Anett Gornig hat ihre zwei Söhne gerne in eine Weddinger Kita gegeben. "Wir | |
haben gedacht, es ist gut, wenn die Kinder sehen, dass es auch noch eine | |
andere Kultur als die ihre gibt", sagt die Pankowerin. Aber bei der Wahl | |
der Grundschule wollen Gornig und ihr Mann, beide Akademiker, keine | |
Kompromisse machen. "Eine Weddinger Grundschule kommt definitiv nicht in | |
Frage", sagt die Mutter von Victor (3) und Krippenkind Arthur (1). | |
Christina Frank kennt solche Aussagen zur Genüge. "Es ist schon enorm, was | |
ich mitunter an Überzeugungsarbeit leisten muss, dass Eltern ihre Kinder | |
zumindest mal zur Probe zu uns schicken", seufzt die Leiterin der | |
Carl-Krämer-Grundschule im Soldiner Kiez in Wedding. Selbst wenn es | |
gelinge, bildungsbewusste Weddinger Eltern für die Schule mit | |
künstlerisch-musischer Schwerpunktsetzung, mit Frühenglisch und | |
Hochbegabtenförderung zu interessieren, trauten sich die meisten dann doch | |
nicht und zögen weg. Ins benachbarte Pankow, nach Alt-Mitte, nach | |
Reinickendorf. | |
Dabei ist der Ruf der Schulen im Viertel oft zu Unrecht mies, findet Frank: | |
"Viele sind viel weiter als benachbarte Schulen in Reinickendorf oder | |
Pankow, etwa was die individuelle Förderung anbelangt." Auch an der | |
Carl-Krämer-Grundschule wird die sogenannte Binnendifferenzierung groß | |
geschrieben. Statt sich an den Lehrplan zu klammern, soll Schülern | |
ermöglicht werden, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit unterschiedlich | |
schnell zu lernen. | |
Nur: Solche Tatsachen scheinen viele Eltern gar nicht zu interessieren. | |
Argumentiert wird oft auf einer höchst emotionalen Ebene. Da trifft der | |
Wunsch, nur das Beste für sein Kind zu wollen, auf sorgfältig gepflegte | |
Vorurteile und das meist irrationale Misstrauen gegenüber den "Anderen": | |
den Migranten, der sozial niedrigeren Schicht. Auch sozialer Druck komme | |
hinzu, sagt Stephan Baldßun-Gornig, der Vater von Victor und Arthur: "Ich | |
muss mich schon vor Kollegen rechtfertigen, dass meine Kinder in eine | |
Weddinger Kita gehen." | |
Auch Sarah Ninette Kaliga ist Weddingerin. Die Mutter einer Zweijährigen | |
kennt den Fluchtreflex der bildungsbewussten Mittelschicht selbst. Zusammen | |
mit Patrick Bohländer, ebenfalls Weddinger und Vater einer Zweijährigen, | |
will sie nun Eltern, die der Kinder wegen wegziehen wollen, zum Bleiben | |
motivieren: "Wir wollen eine Sogwirkung erreichen", sagt Kaliga. "Alleine | |
fällt so ein Schritt schwer. Wenn man sich kennt, gehts leichter." | |
Kaliga, die gerade an der Universität Potsdam in Empirischer | |
Erziehungswissenschaft promoviert, plant ihr Projekt langfristig. Bis ihre | |
Tochter eingeschult wird, soll das Elternnetzwerk stehen - und sich | |
irgendwann von alleine tragen: "Ein Elternnetz macht schließlich auch ein | |
Kindernetz", ergänzt Bohländer, der gerade einen Master in | |
Erwachsenenpädagogik an der Humboldt-Universität macht. | |
## Den Nerv getroffen | |
Elterninitiativen, wie Kaliga und Bohländer sie im Soldiner Kiez planen, | |
scheinen einen Nerv zu treffen. Hört man sich unter Weddinger Kita-Eltern | |
um, scheint zumindest der nötige Resonanzboden für ein solches Projekt, das | |
Kinder bildungsnaher Elternhäuser in Gruppen an geächteten "Problemschulen" | |
anmelden will, vorhanden zu sein. "So etwas würde mich überzeugen", sagt | |
etwa Svenja Kühnel. Die Journalistin zweifelt auch gar nicht so sehr an der | |
Leistungsfähigkeit der Weddinger Schulen. Den Montessori-Zweig der | |
Wilhelm-Hauff-Grundschule in der Gotenburger Straße findet sie eigentlich | |
sehr attraktiv - und würde doch ihre Tochter Nike-Lotta (2) erst dann | |
bedenkenlos anmelden, "wenn eine Freundin oder Bekannte mir sagt: Die | |
Schule ist gut". Auch Anett Gornig würde sich von einer begeisterten | |
Freundin zumindest zum "Überlegen" bringen lassen. | |
Dass noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten ist, weiß Kaliga. | |
Zurzeit spricht sie potenzielle Eltern für ihre Initiative noch spontan auf | |
Spielplätzen oder in der Kita ihrer Tochter an, ab Oktober will sie | |
systematisch in den Weddinger Kitas auf ihr Projekt aufmerksam machen und | |
mit Eltern diskutieren, was ihnen bei einer Schule für ihr Kind wichtig ist | |
- mal ganz emotionslos betrachtet. Die Ergebnisse dieser Elterngespräche | |
sollen dann den Schulen im Kiez präsentiert werden. Für Christina Frank | |
sind solche Initiativen ein Lichtblick: "Wir wären absolut offen für eine | |
Kooperation und die Wünsche der Eltern." | |
Elternnetzwerke, die sich in den letzten Jahren anderswo gebildet haben, | |
beweisen, dass es funktionieren kann: Die Lenau-Schule im Kreuzberger | |
Bergmannkiez ermöglicht seit 2010, Kinder in Gruppen anzumelden, um | |
bildungsbewussten Eltern die Angst vor der vermeintlichen Problemschule zu | |
nehmen. Die Gustav-Falke-Grundschule im Weddinger Brunnenviertel schuf 2010 | |
mit großem Medienecho und in Kooperation mit einer Elterninitiative aus | |
Alt-Mitte eine naturwissenschaftliche Schwerpunkt-Klasse (NaWi-Klasse) - | |
inklusive eines umstrittenen obligatorischen Deutschtests. Zum Schuljahr | |
2010/11 waren es dann doch nur drei Eltern aus Alt-Mitte, die den Schritt | |
nach Wedding wagten, aber "dieses Jahr war die Resonanz so groß, dass alle | |
ersten Klassen von mehr Kindern mit guten Deutschkenntnissen profitieren", | |
sagt Schulleiterin Karin Müller. | |
## Durchmischt reicht nicht | |
Der Bildungswissenschaftler Hans Merkens, emeritierter Professor am | |
Arbeitsbereich Empirische Erziehungswissenschaft der Freien Universität, | |
findet den Ansatz der Elternnetzwerke grundsätzlich gut. Gleichzeitig warnt | |
er, dass eine stärkere soziokulturelle "Durchmischung" der Schülerschaft | |
nicht reiche. "Es wird zu wenig in Weiterbildung investiert", sagt Merkens. | |
"Gehen Sie mal in die Schulen: Ein Großteil des Lehrpersonals ist zwischen | |
50 und 60 Jahre alt - diese Lehrer haben ihre Ausbildung abgeschlossen, als | |
Interkulturelle Pädagogik ein Fremdwort war." Zudem sei | |
binnendifferenzierter Unterricht, wie ihn die Carl-Krämer-Grundschule | |
betreibe, noch viel zu wenig verbreitet. In Elterninitiativen erkennt er | |
immerhin die Chance, Projekte wie NaWi-Klassen oder projektorientiertes | |
Arbeiten "in die Fläche zu bekommen". Sonst, glaubt Merkens, schaffe man | |
nur Lerninseln, "aber man ändert nichts an der Gesamtsituation". | |
Insgesamt ist es wohl eher ein gesellschaftliches als ein bezirkliches | |
Problem. "Wir leben nun mal in einer zunehmend multikulturellen | |
Gesellschaft. Wie sollen sich die Kinder später orientieren können, wenn | |
sie von allem ferngehalten werden?", fragt Christina Frank etwas ratlos. | |
"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder/ Geh doch in | |
die Oberstadt, machs wie deine Brüder!" Franz Josef Degenhardts Lied | |
scheint auf traurige Weise aktuell zu bleiben für eine | |
Abschottungsmentalität, die aus Problemvierteln Ghettos machen kann. Das | |
Lied ist von 1965. | |
4 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
## TAGS | |
Berlin-Wedding | |
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