| # taz.de -- Hunger in Afrika: Teilen mit denen, die wenig haben | |
| > Millionen von Menschen verloren im Boko-Haram-Krieg ihre Lebensgrundlage. | |
| > Ein Einblick in die Schwierigkeiten, humanitäre Not zu lindern. | |
| Bild: Ummul Mohamed floh vor drei Jahren vor Boko Haram | |
| Yola taz | Das winzige Haus, das nur aus einem Zimmer besteht, ist | |
| sorgfältig aufgeräumt. In drei Koffern und ein paar Plastiktaschen hat | |
| Ummul Mohammed all das verstaut, was ihr und ihren vier Kindern geblieben | |
| ist. Eine kleine Matratze muss für die Familie reichen. | |
| Seit drei Jahren lebt die 26-Jährige schon so in Sangere Futy, einem Vorort | |
| der Provinzhauptstadt Yola. „Geflohen bin ich aus meinem Heimatort | |
| Madagali“, sagt die Frau mit dem runden Gesicht stockend. Grund für die | |
| Flucht war die Terrorgruppe Boko Haram, die sich 2014 aus ihren | |
| nordostnigerianischen Hochburgen immer weiter in Richtung Süden | |
| ausbreitete, mordete, vergewaltigte, entführte und plünderte. | |
| Seitdem ist Mohammed, die früher als Schneiderin arbeitete, auf Hilfe | |
| angewiesen. Schon die Miete für das Zimmer – umgerechnet 2,50 Euro pro | |
| Monat – bereitet Schwierigkeiten. „Ich bin sehr froh, dass es Unterstützung | |
| gibt“, sagt sie. In ihrem Fall ist das die katholische Diözese Yola, die | |
| Binnenflüchtlinge mit Lebensmittelspenden unterstützt, allerdings kein | |
| Bargeld gibt. | |
| Ausreichend ist das jedoch nicht, weshalb Mohammed nach Gelegenheitsjobs | |
| sucht. Manchmal jätet sie dafür Unkraut. Gerade in sogenannten | |
| Gastkommunen, wo zwei Drittel der Binnenflüchtlinge leben, verläuft die | |
| Hilfe eher unauffällig und informell. Auch Hausbesitzer fordern mitunter | |
| nur reduzierte Mietpreise. „Ohne diese Unterstützung könnte ich gar nicht | |
| überleben“, sagt Ummul Mohammed und weiß gleichzeitig: Die Lage zahlreicher | |
| Binnenvertriebener weiter im Norden ist noch wesentlich dramatischer. | |
| Bis heute verzeichnet Nigeria mehr als 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge im | |
| Boko-Haram-Kriegsgebiet, vorwiegend im Bundesstaat Borno, aber auch in | |
| Adamawa und Yobe. Unterstützung zum Überleben brauchen laut OCHA, der | |
| Nothilfekoordination der Vereinten Nationen, aktuell sogar 8,5 Millionen | |
| Menschen. 5,2 Millionen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Dabei ist | |
| das Ausmaß der Katastrophe seit einem Jahr relativ gut bekannt. Im Juli | |
| 2016 schätzte der UN-Sicherheitsrat bereits, dass 9,2 Millionen Menschen im | |
| Nordosten Nigerias humanitäre Hilfe benötigen. Erschreckende Bilder der | |
| Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) sorgten damals für einen | |
| Aufschrei. | |
| Der ist längst verhallt. In Nigeria beeilen sich Regierungsmitarbeiter zu | |
| versichern, dass immer mehr Binnenflüchtlinge in ihre Heimatdörfer | |
| zurückkehren. Ende Juni ließ die nigerianische Luftwaffe Fotos | |
| veröffentlichen, auf denen Soldaten offenbar Nahrungsmittelpakete | |
| verteilen. Doch solche Einzelaktionen passieren meist planlos und wirken | |
| wenig nachhaltig. | |
| Im Bundesstaat Adamawa sinkt die Zahl der Vertriebenen tatsächlich mit | |
| jedem Monat. Laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) sind es | |
| aktuell 140.875. Für Maurice Kwairanga, der das Komitee für Gerechtigkeit, | |
| Entwicklung und Frieden (JDPC) leitet und ein Flüchtlingscamp rund um die | |
| katholische Kathedrale betreut, ist damit aber auch die Unterstützung | |
| komplett zum Erliegen gekommen. „Seit einem Jahr sind wir auf Spenden aus | |
| unserer Kirchengemeinde angewiesen“, sagt der Priester, der für die | |
| Versorgung von über 400 Menschen verantwortlich ist. Internationale Gelder | |
| gebe es nicht. „Wenn es Hilfe gibt, dann konzentriert sie sich auf Borno.“ | |
| Doch auch dort, in Boko Harams einstigem Kernland, verbessert sich die Lage | |
| höchstens langsam, wenn überhaupt. IOM berichtet, dass bis heute drei | |
| Landkreise an den Grenzen zu Niger und dem Tschadsee schon für | |
| Datenerhebungen nicht zugänglich seien. | |
| Das beklagt auch das UN-Welternährungsprogramm WFP in seinem aktuellen | |
| Lagebericht: „Die Unsicherheit unterbricht die Lebensmittelverteilung und | |
| verschlimmert die schreckliche Situation noch.“ Auf der | |
| WFP-Verteilungskarte sind viele weiße Flecken. | |
| ## Ungewöhnlich heftige Regenzeit | |
| Nun könnte die Regenzeit Hilfe komplett zum Erliegen bringen. In vielen | |
| Regionen Westafrikas hat es in den vergangenen Wochen ungewöhnlich heftig | |
| geregnet. Mitte Juli starben in Suleja, einer Satellitenstadt 50 Kilometer | |
| außerhalb der Hauptstadt Abuja, an einem Wochenende elf Menschen in den | |
| Fluten. Im Nordosten kann Regen dazu führen, dass „Gebiete komplett von der | |
| Außenwelt abgeschnitten“ werden, so MSF. | |
| Der Ort Rann etwa, der schon jetzt nur schwer zugänglich ist, könnte dann | |
| nur noch per Hubschrauber erreicht werden. Betroffen wären davon mehr als | |
| 40.000 Menschen. Laut MSF hat es bereits einen Hepatitis-A-Ausbruch | |
| gegeben, und das Risiko für Cholera gilt als erhöht. | |
| Ähnlich düster bewertet der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) die Lage. | |
| Cheick Ba, Landesdirektor in Nigeria, schätzt, dass in der Region schon | |
| jetzt 450.000 unterernährte Kinder leben, und warnt vor einer Verschärfung | |
| der Krise. „Unsicherheit hält die Menschen davor ab, ihre Felder zu | |
| bewirtschaften. Gleichzeitig haben sie nur zu lokalen Märkten Zugang.“ Und | |
| auch wenn, wie in einigen Regionen im Süden Bornos sowie im Norden | |
| Adamawas, die Ackerflächen nach jahrelanger Pause wieder bestellt werden | |
| können, bleibt ein anderes Problem bestehen: Die Menschen haben weder Geld | |
| für Saatgut noch für Dünger. | |
| ## Nigeria | |
| Die Lage: 50.000 Menschen leiden unter der Hungersnot, 5,2 Millionen unter | |
| Ernährungsunsicherheit. Das sind 3 Prozent der Gesamtbevölkerung – aber im | |
| Nordosten die Mehrheit. | |
| Der Grund: Der Krieg zwischen Armee und den Islamisten von Boko Haram im | |
| Nordosten trieb zwei Millionen Menschen in die Flucht, die Landwirtschaft | |
| brach zusammen. Noch immer sind 1,7 Millionen Vertriebene übrig. | |
| Das Problem: Weite Gebiete bleiben unsicher, manche unzugänglich. | |
| Vertriebene werden schlecht versorgt, Rückkehrer stehen vor dem Nichts. | |
| Die Hilfe: Der UN-Hilfsappell von 730 Millionen US-Dollar (624 Millionen | |
| Euro) ist zu 51 Prozent finanziert. 2,14 Millionen Menschen werden | |
| versorgt. | |
| ## Jemen | |
| Die Lage: 6,8 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht, 17 Millionen von | |
| Ernährungsunsicherheit – zwei Drittel der Bevölkerung. An der Cholera | |
| starben bis 19. Juli 1.828 Menschen. | |
| Der Grund: Krieg zwischen schiitischen Huthi-Rebellen in der Hauptstadt | |
| Sana’a und der Regierung in Aden. | |
| Das Problem: Saudi-Arabien, Verbündeter der Regierung, bombardiert das | |
| Rebellengebiet und blockiert den Hafen Hudeidah am Roten Meer. | |
| Gesundheitssystem und Wasserversorgung sind zusammengebrochen. Ein | |
| Waffenembargo gegen die Kriegsparteien ist in der UNO nicht durchsetzbar. | |
| Die Hilfe: Der UN-Hilfsappell von 1,78 Milliarden US-Dollar (1,52 | |
| Milliarden Euro) ist zu 48 Prozent finanziert. Nur 4,3 Millionen Hungernde | |
| werden versorgt. | |
| ## Somalia | |
| Die Lage: 3,1 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht, 6,7 Millionen | |
| leiden unter Ernährungunsicherheit. Das sind 40 Prozent der Bevölkerung. | |
| Der Grund: Eine Dürre hat zu Ernteausfällen und dem Tod der Mehrheit der | |
| Viehherden geführt. Dazu kommt jahrzehntelanger Bürgerkrieg im Süden. | |
| Das Problem: Die Regierung in Mogadischu kontrolliert nur kleine Gebiete, | |
| das Land ist für Helfer kaum zugänglich. Das unabhängige Somaliland im | |
| Norden, wo Dürre und Hunger am größten sind, wird nicht anerkannt. | |
| Die Hilfe: Der UN-Hilfsappell von 1,21 Milliarden US-Dollar (1,03 | |
| Milliarden Euro) ist zu 46 Prozent finanziert. Von 6,7 Millionen Hungernden | |
| werden 2,5 versorgt. | |
| ## Südsudan | |
| Die Lage: Zehntausende Menschen leiden unter Hunger, 6 Millionen sind von | |
| der Hungersnot bedroht – die Hälfte der Bevölkerung. 1,95 Millionen | |
| Südsudanesen sind in Nachbarländer geflohen, 2 Millionen im Land | |
| vertrieben. | |
| Der Grund: Krieg zwischen der Regierung in der Hauptstadt Juba und | |
| Rebellen, dazu ethnische Vertreibungen und fast kompletter | |
| Wirtschaftskollaps. | |
| Das Problem: Weite Landesteile sind vor allem in der Regenzeit nicht | |
| zugänglich. Die Regierung erschwert Hilfe, alle Kriegsparteien lassen Hilfe | |
| nur eingeschränkt zu. Ein Waffenembargo gegen die Kriegsparteien ist in der | |
| UNO nicht durchsetzbar. | |
| Die Hilfe: Der UN-Hilfsappell von 1,25 Milliarden US-Dollar (1,07 | |
| Milliarden Euro) ist zu 56 Prozent finanziert. 3,8 Millionen Menschen | |
| werden versorgt. | |
| ## Die nächsten Krisen | |
| Zentralafrikanische Republik: In diesem Jahr sind erneut bewaffnete | |
| Konflikte ausgebrochen. Milizen terrorisieren weite Landstriche, während | |
| die gewählte Regierung kaum Macht außerhalb der Hauptstadt Bangui hat. Eine | |
| Million Menschen sind auf der Flucht, 2,4 Millionen Menschen sind von | |
| Nothilfe abhängig – über die Hälfte der Bevölkerung. | |
| UN-Untergeneralsekretär Stephen O’Brien sprach am 15. Juli von „einem der | |
| gefährlichsten Länder der Welt“. | |
| Demokratische Republik Kongo: In diesem Jahr hat sich der Terror von Armee | |
| und Milizen über die Hälfte des Staatsgebietes ausgebreitet, 3,8 Millionen | |
| Menschen sind vertrieben, mehr als je zuvor. UN-Hilfsappelle sind | |
| dramatisch unterfinanziert: 7,5 Millionen Menschen – ein Zehntel der | |
| Bevölkerung – sind von Nothilfe abhängig, aber nur 1,1 Millionen davon | |
| werden von Hilfswerken versorgt. Die Zahl der Vertriebenen steigt | |
| wöchentlich. UN-Untergeneralsekretär Stephen O’Brien warnte am 21. Juli: | |
| „Wie viele Hinweise brauchen wir noch, um uns mehr anzustrengen?“ (d.j.) | |
| 25 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
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