# taz.de -- Der israelische Architekt Zvi Hecker: Die Besonderheit eines jeden … | |
> Der israelische Architekt Zvi Hecker lebt seit 1995 in Berlin. Er baut | |
> für und gegen die Orte, an denen seine Gebäude stehen. | |
Bild: Polyedrische Formen sind in Zvi Heckers Architektur oft zu sehen: Synagog… | |
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dauerte es gut 45 Jahre, bis in Berlin | |
eine neue jüdische Grundschule gebaut wurde. Es war zugleich die erste neue | |
jüdische Schule in ganz Deutschland seit dem Holocaust. Der Entwurf, der | |
den Wettbewerb gewann, hatte die Form einer Sonnenblume. Eingereicht hatte | |
ihn Zvi Hecker, einer der außergewöhnlichsten Architekten Israels. | |
Die Schule wurde 1995 fertiggestellt. Sie liegt am Rand des Grunewalds. | |
Heute lernen hier 270 Schüler, die verschiedenen Religionsgemeinschaften | |
angehören und aus vielen Ländern stammen. Zvi Hecker sah die Sonnenblume | |
als Geschenk an die Kinder Berlins. Ihre Form schien adäquat für ein | |
Schulgebäude, „weil ihre Samenkörner um die Sonne kreisen und das | |
Sonnenlicht alle Schulzimmer beleuchtet“. | |
In den Entwurf für die Schule ließ Hecker, der 1931 in Krakau geboren | |
wurde, seine Erfahrungen als Kind einfließen. Seiner Familie gehörte eine | |
Bäckerei in Krakau. Während der Besetzung Polens wurden die Heckers von den | |
Sowjets deportiert. „Wir kamen nach Usbekistan, wo ich in die Architektur | |
eingeführt wurde, indem ich die Ruinen Samarkands zeichnete. Es war eine | |
schwere Zeit für die Familie. Wir überlebten, indem wir uns von | |
Sonnenblumenkernen ernährten“, erinnerte er sich. Als die | |
Heinz-Galinski-Schule 1995 fertiggestellt wurde, zog Hecker mit seinem Büro | |
nach Berlin, wo er seither lebt und arbeitet. | |
## Bewegungen einfangen | |
In der Berliner Galerie Nordenhake war im Sommer eine Installation von | |
Hecker zu sehen. Mit 84 Jahren bediente sich Hecker einer Geste, die | |
typisch für seine Erkundungen von Form und Raum ist, für seine | |
Interventionen, die mit geringen Mitteln einen möglichst großen Effekt | |
erzielen sollen. | |
Wer die Galerie betritt, stolpert über Streifen von Kunstrasen, die entlang | |
der Wände ausgelegt wurden. Diese Imitation von Gras reflektiert das Grün | |
der Bäume vor den Fenstern und ist zugleich so billig wie metaphorisch. Wie | |
zwei Wege, die in zwei Richtungen, aber dennoch ins Nirgendwo führen, | |
definieren diese Streifen den Raum um, indem sie neue Bewegung, neues Sehen | |
ermöglichen. | |
Sieben strahlend farbige Gemälde hängen im Nebenraum. Bilder, auf Papier | |
gemalt in einem festen Format und gleicher Größe, begleiten Heckers | |
architektonische Arbeit schon seit Jahren. Sie sind keine Skizzen oder | |
Pläne. Sie zeigen organische Raster und geometrische Gestalten in Licht, | |
Bewegung und Formation. Sie erzeugen so einen spekulativen Raum, eine | |
erfundene Topografie, die wiederum in seiner Architektur zu erkennen ist. | |
Seine Installationen und Gemälde sind nicht als Werke oder Bilder, sondern | |
als Nebenprodukt des Prozesses zu sehen, Formen zu verstehen und Bewegungen | |
einzufangen. Sie bilden Sequenzen, keine Serien, die Transformationen | |
zeigen. | |
## Zerschneiden wie einen Kuchen | |
Die Besonderheit eines jeden Ortes diktiert, wie das, was ausgedrückt | |
werden will, tatsächlich artikuliert werden kann, glaubt Hecker. In den | |
Konstruktionen seiner Gebäude wiederum sind es die Strukturen, die auf | |
Autonomie und ihren inneren Notwendigkeiten bestehen. Hecker lässt sie | |
gewähren, was Auswirkungen auf seine Arbeit hat: „Seit vierzig Jahren baue | |
ich konsequent gegen den Willen meiner Bauherren“, hat er einmal gesagt. | |
Zvi Hecker ist in seiner Architektur ein Künstler, in seiner Kunst aber | |
Architekt. | |
So stülpt sich die Sonnenblumenform der jüdischen Grundschule nicht | |
äußerlich über das Gebäude, das vielmehr aus fünf keilförmigen Segmenten | |
besteht, die aus Beton, Metall und Holz gebaut und spiralförmig um eine | |
zentrale Blende herum platziert wurden. Wege zerschneiden das Gebäude wie | |
einen Kuchen, der angeschnitten wurde, so wie in Berlin Gebäude | |
angeschnitten sind, um S- oder U-Bahn Platz zu machen, was Zvi Hecker | |
faszinierte, als er nach Berlin kam. | |
Wegkreuzungen, Abstufungen, Lücken und Innenhöfe schaffen in der Schule | |
eine urbane Topografie, in der man ständig aufs Neue überrascht wird. Das | |
ist typisch für Heckers Gebäude, die selbst Landschaften schaffen, die die | |
natürliche wie urbane Umgebung komplementieren, zugleich aber mit ihr in | |
Konkurrenz stehen und gegen sie rebellieren. | |
Als die Schule entstand, zeigte sich, dass eine andere Metapher Gestalt | |
annahm. Sie begann wie die offenen Seiten eines Buchs auszusehen. Das | |
hebräische Wort für „Schule“ ist „Beit Sefer“, „Haus des Buchs“. … | |
von Heckers Gebäuden ist ein symbolisches Element enthalten, das für die | |
Gemeinschaft steht, die es benutzen wird, und das jedes Haus auf eine je | |
eigene Weise organisiert. | |
## Offen für alle Bürger | |
„Zwei Dinge sind für meine Arbeit wichtig“, sagt Hecker, „woher ich komm… | |
und wo ich baue.“ Nach dem Krieg kehrte er in seine Geburtsstadt Krakau | |
zurück, um am Polytechnikum zu studieren. 1950 bis 1954 setzte er seine | |
Studien am Technion in Haifa fort. Er lernte bei Alfred Neumann. | |
Zusammen mit Neumann und seinem Kommilitonen Eldar Sharon gründete er 1959 | |
ein Architekturbüro. Heckers Karriere begann mit dem Rathaus der neu | |
gegründeten Stadt Bat Jam, das die drei von 1960 bis 1963 als fensterlose, | |
auf dem Kopf stehende Pyramide in den byzantinischen Farben Blau, Rot und | |
Gold bauten. Vier polyedrische Konstruktionen auf dem Dach kanalisieren | |
Wind und Licht nach unten, Sonnenlicht scheint in die Haupthalle. | |
Alte Fotos zeigen einen Monolithen, ein Raumschiff, das in den Dünen | |
gelandet ist. Nicht nur das zentrale Atrium sollte allen Bürgern offen | |
stehen. Auch die Büros der Beamten waren zum Atrium hin offen, Zeichen | |
kommunaler Demokratie, was den Beamten aber nicht behagte. Sie mochten sich | |
nicht in die Akten schauen lassen, was dazu führte, dass die Verwaltung das | |
Gebäude verließ. Dennoch wurde es zu einem Meilenstein der Gestaltung | |
öffentlicher Institutionen im Land: Rechteckige Kisten waren nicht mehr | |
das Maß aller Dinge. | |
## Organische Formen | |
Viele der folgenden Projekte Heckers in Israel, etwa ein Dorf für arabische | |
Flüchtlinge bei Jerusalem, eine Club-Med-Anlage oder eine Offiziersschule | |
der israelischen Armee und ihre Synagoge, basierten auf einer modularen | |
Architektur, in der sich polyhedrale Einheiten wiederholen. Diese | |
Architektur war Teil einer Bewegung experimenteller Architektur. | |
Wer diese Gebäude sieht, wird unter anderem an Buckminster Fuller denken, | |
der für seine Architekturen, unter anderem seine geodätischen Kuppeln, | |
geometrische Grundkörper wie Tetraeder und Oktaeder nutzte, die extrem | |
stabil und effizient sind. | |
Zwei von Heckers beeindruckenden Gebäuden stehen sich in Ramat Gan | |
gegenüber. An ihnen zeigt sich die Entwicklung von geometrischen Elementen | |
zu organischeren Formen. Das Dubiner-Haus wurde 1964 fertiggestellt. Über | |
sieben Stockwerke erstreckt sich eine Struktur aus Würfeln, die sich wie | |
eine elegante Favela an den Hügel anschmiegt. | |
Das gegenüber liegende Spiral Apartment House von 1986, in dem Hecker eine | |
Weile selbst lebte, windet sich wie eine Wendeltreppe in den Himmel. Es | |
sieht unfertig aus, die Außenwände sind mit Steinen und Spiegeln bedeckt, | |
Sie verbergen die präzise mathematische Ordnung der Konstruktion. | |
## Mittelalterliche Wurzeln | |
Inzwischen bezieht sich Hecker häufig auf seine „mittelalterlichen | |
Wurzeln“. Er fusioniert Formen wie diejenige der Festung Krakaus und der | |
islamischen Architektur Samarkands miteinander und lässt den regionalen | |
Kontext Israels als eines Lands im Konflikt einfließen. Seine Architekturen | |
dienen dem Bedürfnis nach Schutz, indem sie von Mauern und umhüllenden | |
Konstruktionen umgeben sind. Er betont, sie seien organisch, frei, aber | |
auch rigide. | |
Ein Echo davon ist in Heckers Berliner Ausstellung zu spüren, die | |
„Crusaders Come and Go“ betitelt ist. Er bezieht sich auf das Paradox der | |
Architektur, denn Architektur ist ein Werkzeug des Eroberers, invasiv, | |
okkupierend, konstruktiv und destruktiv zugleich. „Als Menschen sind wir | |
unvermeidlich Eroberer“, sagt er, dazu bestimmt, irgendwann zu | |
verschwinden, von einer aufsteigenden Macht ersetzt zu werden. Architektur | |
liegt ein Paradox zugrunde, weil sie uns schützt, aber auch den Mächten | |
dient, die uns zerstören. | |
Hecker betont in seinen letzten Projekten die visuelle Stärke | |
demokratischer Gesellschaften. Die Koningin Máximakazerne beim Flughafen | |
Schiphol in Amsterdam von 2016 ist eine Polizeikaserne für 1.500 Offiziere, | |
die für die Flughafensicherheit verantwortlich sind. Gerade Institutionen | |
wie Armee und Polizei, die für den Fortbestand auch der Demokratie | |
essenziell sind, müssen für ihn sichtbar sein, anders als in totalitären | |
Staaten. | |
Aber auch hier orientierte sich Hecker am Modell der mittelalterlichen | |
Festung. Wie bei vielen seiner Gebäude ist das Zickzack ihrer „Mauer“ am | |
besten von oben zu sehen – wenn man mit dem Flugzeug Schiphol verlässt. | |
7 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Tal Sterngast | |
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