Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dramatikerpreis für Anne Lepper: Nur eine darf glücklich werden
> Unheimlich, grotesk und bedrohlich eng ist die Welt der Dramen von Anne
> Lepper. Sie erhält am Sonntag den Mülheimer Dramatikerpreis.
Bild: Szene aus Dominic Friedels Mannheimer Inszenierung von „Mädchen in Not…
Naivität ist nicht harmlos. In den Stücken der Dramatikerin Anne Lepper ist
sie die Hülle, mit der sich Grausamkeit tarnt und Gier. Am Sonntag, 18.
Juni, wird ihr dafür in einer Matinee in Mülheim der Mülheimer
Dramatikerpreis 2017 überreicht (dotiert mit 15.000 Euro). Zugesprochen hat
ihr diese hohe Auszeichnung eine Jury für ihr Stück „Mädchen in Not“.
Mit einer Sprache, karg und verbraucht wie abgekaute Fingernägel, schreibt
Anne Lepper ihre Dialoge. Allein schon diese Sprache macht den Verstand
klein, die Gedanken kurz, die Gefühle eng, die Figuren beschränkt. Werner
Schwab und Franz Xaver Kroetz haben ihre Stücke ähnlich aus dem Innenraum
einer Welt heraus entworfen, deren Bewohner ängstlich über den Grenzen
wachen und doch auch leiden an der Verhinderung von Veränderung.
Infantil und mit aufstampfenden Füßen wie kleine Kinder streiten sich die
Freundinnen Baby und Dolly darum, wer vom Genital des Puppenmanns, den sich
Baby in „Mächen in Not“ beschafft hat, Gebrauch machen darf. Man kann sich
bei der Lektüre von Leppers Texten kaum vorstellen, wie aus diesen
Sprechblasen, diesen grotesk zugeschnittenen Konturen spannende
Bühnenfiguren werden können.
## Das Lebendige schrumpft
Genau das aber scheint die interessante Herausforderung für die
Theaterleute, sie müssen dem eigenwilligen Text mit einem eigenwilligen
ästhetischen Zugriff begegnen. Seit 2009 das erste Stück der 1978 in Essen
geborenen Autorin an den Münchner Kammerspielen in der „Langen Nacht der
neuen Dramatik“ den Preis davontrug, wurde sie mehrfach zu Wettbewerben
eingeladen und ausgezeichnet. Fast alle ihre sieben Stücke sind im Theater
aufgeführt oder als Hörspiel herausgekommen.
„Mädchen in Not“ inszenierte am Nationaltheater Mannheim Dominic Friedel.
Er lässt die Körper der Schauspieler ins Püppchenhafte schrumpfen, in dem
er ihnen riesige Köpfe aufsetzt, die das Gesicht fotografisch vergrößern.
Das trippelt und tippelt so niedlich auf Zehenspitzen, als hätte man hier
ein Kabinett aus Spieluhrfiguren vor sich.
Baby und Dolly sind nicht das erste Freundinnenpaar in Leppers Dramen, das
im Konkurrenzkampf um einen kleinen Zipfel Glück schließlich mörderisch
agiert. Schon in „Sonst alles ist drinnen“ überredet die eine die andere
zum Selbstmord, um an deren Stelle das Vater-Mutter-Kind-Spiel
fortzusetzen, noch dazu in einer inzestuösen Konstellation. Leppers Figuren
sind gnadenlos. Und gnadenlos ist der Anpassungsdruck, unter dem sie
stehen.
## Schlagt sie tot!
Totalitäre Polizistenchöre hat Lepper erfunden, die jede Abweichung
bestrafen. Das Gemessen werden an Normen – sei schön, dünn und angepasst,
oder du wirst aussortiert – übernimmt in „Mädchen in Not“ einerseits Ba…
selbst. Sie verdiene deshalb, weil sie den Normen entspricht, Besseres als
die echten Männer, die sie schon als Enttäuschung erlebt hat, deshalb sucht
sie sich ein bis zwei Puppenmänner (die dann allerdings kein bisschen
besser funktionieren). Andererseits wacht über dem Geschehen die
„Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“, die in absurden Konstellationen
an der Abschaffung der „Differenz“ arbeiten und dabei immer Gefahr laufen,
sich selbst zu vernichten.
Das ist abstrus, unheimlich, nicht ganz durchschaubar in seiner Verdrehung
von eh schon verdrehten populistischen Parolen. „So weit ist es in Europa
schon gekommen, dass man eine Gefahr nicht mehr Gefahr nennen darf, wenn
sie von Puppen ausgeht“, spricht der Chor und fordert „schlagt sie tot“. …
er allerdings selbst nicht nur aus Puppen besteht, das ist im Bühnennebel
nie ganz klar auszumachen.
Es ist erstaunlich, welch hohen Druck der Anpassung, der Normierung, der
Angst vor der Abweichung Lepper in jedem ihrer Stücke beschreibt. Als ob
ihre Figuren in einer Welt lebten, in der Gender- und Differenzdiskurse
noch nie öffentlich diskutiert wurden. Beziehungsweise in einer Welt, die
jeden Türspalt, jede Öffnung dagegen abdichtet wie gegen einen giftigen
Rauch. Und womöglich führt ja gerade der Verdacht, dass es eine solche Welt
tatsächlich gibt, zu dem großen Interesse der Theater an dieser Autorin.
17 Jun 2017
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Festival für Neue Internationale Dramatik
Junges Theater
Maxim Gorki Theater
Musiktheater
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theater von Nora Abdel-Maksoud: Gegen die bürgerliche Apathie
Sie hätte gerne den Joker gespielt: Wie die Schauspielerin Nora
Abdel-Maksoud zur Inszenierung eigener Stücke kam. Ein Porträt.
Theatermacher Ayham Majid Agha: Der Scharfschütze und die Einsamkeit
Ayham Majid Agha, Theatermacher aus Syrien, gehört zu den Protagonisten des
Gorki-Theaters. Über Krieg und Flucht weiß er viel zu erzählen.
Konrad-Wolf-Preis für Nicola Hümpel: Die Nimmermüde
Tanztheater, Opern und Konzerte inszeniert die Berliner Regisseurin Nicola
Hümpel mit großer Liebe zum Detail. Ein Porträt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.