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# taz.de -- Konrad-Wolf-Preis für Nicola Hümpel: Die Nimmermüde
> Tanztheater, Opern und Konzerte inszeniert die Berliner Regisseurin
> Nicola Hümpel mit großer Liebe zum Detail. Ein Porträt.
Bild: Vermisst die alte Kunst des Flanierens: Nicola Hümpel
Wie die Sophiensæle in Berlin-Mitte 1998 zu ihrer ersten Bestuhlung kamen,
verrät viel über die Aufbruchstimmung der neunziger Jahre. Es steht in
einer Fußnote eines Textes, den Jochen Sandig, damals Mitbegründer und
Leiter der Sophiensæle, über Nico and the Navigators geschrieben hat,
veröffentlicht in einem schönen Bilderbuch über die die Gruppe, „An der
Erde hängt der Mensch …“.
Die zwei Jahre zuvor am Bauhaus Dessau gegründete Kompagnie brachte die
Klappsitze für ihre erste Produktion damals eigens mit. Die Stühle waren
eine nicht ganz gelungene Marcel-Breuer-Imitation der Bauhausbühne in
Dessau aus DDR-Zeiten. Zur Wendezeit landeten sie im Müll, um später von
Nicola Hümpel und ihrem Freund und Bühnenbildner Oliver Proske geborgen und
repariert zu werden – und dann als Bestuhlung für die Produktion der jungen
freien Gruppe zu dienen. Die ganze Kompagnie half beim Aufbau mit.
Heute denkt die Regisseurin Nicola Hümpel, 1967 geboren, zwar gern an diese
Zeit des Aufbruchs zurück. Aber sie sieht vor allem die Veränderung. Sie
findet es inzwischen schwerer, als Künstlerin zu wissen, was man will. Das
liegt nicht nur am großen Kulturangebot, sondern mehr noch an der
Veränderung des gesellschaftlichen Klimas. Sie sitzt in ihrem kleinen Büro
im Prenzlauer Berg und denkt an eine Diskussion mit anderen Künstlern. Wenn
Aggression und Hass immer mehr Raum einnehmen und zu einem Thema in den
Medien werden, zweifelt sie, dass es Sinn macht, das „Übermaß an Übel auch
auf der Bühne ständig vor Augen zu führen“.
Sie vermisst in Kunst und Politik mitreißende Stimmen, die von Hoffnung,
Visionen und Freiräumen sprechen. Ihr fehlen Erzählungen darüber, „für was
wir stehen, was wir erhalten wollen“. Die Klarheit, mit der Nicola Hümpel
redet, findet man auch in der Ästhetik ihrer Inszenierungen. Aber weil dort
nie mit großen Begriffen hantiert wird, weil sie so nah am Alltäglichen
gebaut sind und der Uneindeutigkeit der Gefühle auf den Grund gehen, weil
die Sinnlichkeit von Körper und Stimme in ihnen so gegenwärtig ist, gilt
sie eher als poetische denn als politische Künstlerin.
Vielleicht ist das ein unsinniger Gegensatz. Vielleicht gehört zu dem, was
es zu erhalten gilt, eben der Freiraum, Sehnsüchte und Bedürfnisse zu
erkunden, die längst nicht so einfach und widerspruchsfrei gestrickt sind,
wie es oft scheint.
## Träume stürzen ein
Wenn Nicola Hümpel im September in der Berliner Akademie der Künste den
Konrad-Wolf-Preis erhält, dann auch für ihren nimmermüden Blick auf die
„Absurditäten und Abgründe menschlicher Verhaltensrituale“, wie die drei
Jurymitglieder Nele Hertling, die Choreografin Reinhild Hoffmann und Barrie
Kosky (Intendant der Komischen Oper) in ihrer Begründung schreiben. Das hat
ihre Anfänge geprägt und das ist noch immer der Stoff, der Träume auf der
Bühne bei ihr zum Einstürzen bringt.
Das zeigen drei ihrer Projekte der jüngsten Zeit – der Konzert-Abend
„Silent Songs“, die Oper „Reigen“, die im April 2016 an der Stuttgarter
Oper herauskam und ein großer Erfolg für ihren Weg als Opernregisseurin
war, und die Eigenproduktion „Die Stunde da wir zu viel von einander
wussten“, die ab Freitag wieder im Radialsystem in Berlin zu sehen ist.
Immer wieder geht es um das Herstellen von Intimität und Nähe, um Begehren
und Begegnung, um das Abschätzen und Bewerten, um Sex und Fremdheit, um
Sehnsucht und Verfügbarkeit, um Selbstdarstellung und das Wunschbild vom
anderen.
## Die innere Spannung
In „Silent Songs“, entstanden in einem Werkstattprojekt mit
Musiktheaterstudenten in München, bildeten dafür Arien von Händel und
Lieder von Schubert das Material, das die jungen Sängerinnen und Sänger mit
ihrer Gegenwart, ihren Körpern, ihren Fragen, ihren Wünschen füllen
sollten. Großartige Szenen entstanden so, wie man vergangene Woche im
Heimathafen Neukölln sehen konnte: etwa wenn die französische Sopranistin
Sarah Aristidou Franz Schuberts Lied „Mein Ruh ist hin, mein Herz schwer“
interpretiert, beide Füße unverrückbar in den Boden gestemmt, obwohl doch
die anderen SängerInnen um sie herumlaufen und sie fast wegdrängen.
Die innere Spannung der Figur zerreißt sie fast und verhindert, ein Außen
wahrzunehmen. Sie ist nicht nur wütend und traurig über den Verrat eines
Geliebten, sondern hadert auch mit ihrer Wut und ihrer Trauer. Die Ruhe,
die sie wiederfinden will, ist selbst wie ein Zwang. Sarah Aristidou lässt
das Stapeln der Emotionen und Verhakeln bis zur Blockade physisch spürbar
werden.
## Gemeinsamkeit verfehlen
Dass Gesang ein physisches und körperlich sehr individuelles Erlebnis ist,
für den Sänger, aber auch für den Zuschauer/Zuhörer, betont die Arbeit von
Nicola Hümpel. In Stuttgart, in der Arbeit mit dem Opernensemble am
„Reigen“, ist ihr dabei eine sehr sinnliche Inszenierung geglückt, die vom
Verführen aufregend, erotisch, aber auch komisch und böse erzählt.
Die sexuelle Nähe ist da alles andere als ein Garant für Übereinstimmung
von Gefühlen oder Wünschen. Im Gegenteil, wiederholt sich eher das
Verfehlen der beschworenen Gemeinsamkeit. Der Exaltiertheit, die der
belgische Komponist Philippe Boesmans in seiner 1993 geschriebenen Oper
stimmlich in jede Figur legte, antworten die Körper.
Auch die vorausgegangene Produktion „Die Stunde da wir zuviel voneinander
wussten“ gleicht einem Reigen, einem episodischen Verketten vieler kleiner
Szenen. Ein Ausgangspunkt ist die verschwundene Kultur des Flanierens und
Beobachtens. „Heute klebt jeder mit der Nase auf dem Handy, Körper prallen
fast ineinander“, schildert Hümpel ihre Beobachtung. Das Sich-Zeigen
dagegen findet auf einer medialen Ebene statt, in sozialen Netzwerken und
auf Selfies, in der die Präsentation überhöht wird. Die Figuren ihres
Stücks gleichen Strandgut, das zwischen realer und virtueller Welt
umhertreibt, aus den Schnittstellen rutscht und hier wie da keinen Halt
findet.
Von Anfang an hat Nicola Hümpel mit dem Bühnenbildner Oliver Proske
zusammengearbeitet. Die absurde Dingwelt ihrer frühen Stücke, in denen
Wände, Tische, Staubsauger hartnäckig, eigensinnig gegen ihre Benutzer
arbeiteten, verdankten sich auch seinen Erfahrungen als Designer. Heute ist
er auch für Geschäftsführung, technische Leitung und Tourplanung zuständig.
## Leben, Arbeit, Ziele, Ängste
Hümpel und Proske haben sich, bevor sie 1996 die Kompagnie „Nico and the
Navigators“ gründeten, in Hamburg an der Kunsthochschule kennen gelernt.
Auch privat sind sie ein Paar, seit zehn Jahren verheiratet. Das scheint
mir beneidenswert, so eine Nähe von Leben, Arbeit, Zielen.
„Aber“, wehrt Nicola Hümpel ab, „das darf man nicht überidealisieren. M…
teilt auch Ängste und Sorgen, das kann den Stress potenzieren.“ Da geht es
zum Beispiel um die Verantwortung, stets auch im Sinne des Erhalts der
eigenen Kompagnie zu entscheiden. Da müssen die Lagerkosten für zwanzig
Bühnenbilder, die zu ihrem Repertoire gehören und mit denen sie auf Tour
gehen, aufgebracht werden. Behält man sie alle?
Umsetzen muss die Gruppe ungefähr eine halbe Million Euro, viel davon wird
durch Gastspiele und Kooperationen erwirtschaftet. Das war nie einfach und
ist es nicht, auch wenn die Kompagnie vom Berliner Senat gefördert wird,
seit 2014 mit einem eigenen Haushaltstitel mit 150.000 Euro im Jahr.
Vom poetischen und verspielten Bildertheater, von der Unbekümmertheit und
dem Effekt der Vergrößerung des Kleinen, vom episodischen Erzählen und
Witz, von all dem, was ihre früheren Projekte ausgemacht hat, ist in der
heutigen Arbeit noch immer viel wiederzuerkennen. Durch die Hinwendung zum
Musiktheater aber, zu Konzertabenden und Opern, hat ihre Bühnensprache mehr
Tiefe und Unmittelbarkeit bekommen.
10 Aug 2016
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Musiktheater
Tanztheater
Akademie der Künste Berlin
Festival für Neue Internationale Dramatik
Politisches Theater
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