# taz.de -- Kommentar Brexit-Verhandlungen: Brexit statt Kohl | |
> Großbritannien wird 2019 die EU verlassen. Das ist kein Verrat an der | |
> europäischen Idee, sondern ein Ausdruck des politischen Pluralismus. | |
Bild: Sich jetzt über Premierministerin Theresa Mays Autoritätsverlust zu mok… | |
Es ist eine listige Fügung der Geschichte, dass kurz vor dem geplanten | |
Beginn der Brexit-Verhandlungen Helmut Kohl gestorben ist. Untrennbar | |
bleibt mit dem Wirken des deutschen Exkanzlers die Überzeugung verbunden, | |
dass die europäische Einigung alternativlos ist. Wenn der Brexit gerade in | |
Deutschland auf Unverständnis stößt, dann deshalb, weil er diese | |
Überzeugung infrage stellt. Der erste Austritt eines EU-Mitglieds aus der | |
Europäischen Union zeigt, dass es in Europa mehr als eine einzige mögliche | |
Zukunft gibt. Die Ära Kohl ist auch europapolitisch vorbei. | |
Niemand kann angesichts des Niedergangs von Griechenland oder der | |
mörderischen Flüchtlingspolitik noch ernsthaft behaupten, dass die EU die | |
ausschließliche Quelle politischer Weisheit in Europa ist – Schweizer, | |
Norweger oder Isländer waren davon sowieso nie zu überzeugen. Deswegen ist | |
der Brexit kein Verrat an der europäischen Idee, sondern eine Manifestation | |
des politischen Pluralismus. | |
Leider prägt die Überzeugung, dass das nicht sein darf, viele Äußerungen | |
von EU-Seite vor dem Beginn der Brexit-Verhandlungen: vom Beharren auf | |
einer von London zu zahlenden möglichst hohen „Austrittsrechnung“ bis zur | |
arroganten Rhetorik aus den Kreisen derer, die sich, weil sie das Projekt | |
Europa vertreten, für etwas Besseres halten. | |
In Großbritannien selbst hat der überraschende Wahlausgang vom 8. Juni | |
einiges in Bewegung gebracht. Premierministerin Theresa May hatte die | |
vorzeitigen Neuwahlen mit dem Wunsch nach Stärkung ihrer politischen | |
Hausmacht begründet. | |
Erreicht hat sie das Gegenteil: den Verlust ihrer Parlamentsmehrheit und | |
die Wiederbelebung der Opposition. Es wird für die angeschlagene May jetzt | |
viel schwerer sein, für irgendein Ergebnis der Brexit-Gespräche eine | |
parlamentarische Mehrheit zu bekommen. | |
## Kontrolle über Gelder, Grenzen und Gesetze | |
Ein Scheitern der Verhandlungen und ein „harter Brexit“, also der Austritt | |
Großbritanniens aus der EU ohne Folgevereinbarung, wird damit | |
wahrscheinlicher als vorher. Denn wenn es keine parlamentarische Mehrheit | |
in London für ein Verhandlungsergebnis gibt, tritt dieses nicht in Kraft, | |
und Großbritannien verlässt die EU trotzdem. | |
Im Wahlkampf wurde oft fälschlich behauptet, May wolle dieses Szenario. | |
Tatsächlich war sie bloß als Einzige ehrlich genug, ein Scheitern der | |
Gespräche nicht auszuschließen. Labour hingegen vertrat überhaupt keine | |
ehrliche Position: Die Oppositionspartei befürwortet den Austritt aus der | |
EU sowie aus dem Binnenmarkt, will aber die „Vorzüge“ des Binnenmarkts | |
behalten – ohne zu sagen, welche dies sind und wie das gehen soll. | |
Die konservative Regierung will die vollständige Kontrolle über britische | |
Gelder, Grenzen und Gesetze. Das bedeutet: kein freier Personenverkehr, und | |
damit ist ein Verbleib im Binnenmarkt nicht möglich; keine Unterordnung | |
unter den EU-Gerichtshof – damit fällt ein Verbleib in der Zollunion weg. | |
Man muss diese Position nicht teilen, aber zumindest ist es eine. | |
Sich jetzt über Mays Autoritätsverlust zu mokieren, wäre kurzsichtig. Mays | |
Verlust ihrer Parlamentsmehrheit bringt in Großbritannien neue Kräfte ins | |
Spiel und befördert die Debatte. Die schottischen Konservativen schließen | |
einen Verbleib im Binnenmarkt nicht aus, pochen aber auf eine Sperrung der | |
Territorialgewässer für europäische Fischer; die nordirischen Unionisten | |
wollen keine „harte“ Grenze nach Irland, aber auch keinen Binnenmarkt. | |
Vor allem aber ist May jetzt offensichtlich nicht mehr die einzige | |
Vertreterin des britischen nationalen Interesses. Schon in der Wahlnacht | |
forderten manche eine „Regierung der Nationalen Einheit“ für den Brexit. | |
Das ist unrealistisch, aber denkbar sind Brexit-Allparteienkommissionen, um | |
die Verhandlungen zu gestalten. Die Premierministerin könnte, wenn sie klug | |
agiert, die Schwächung ihrer Person in eine Stärkung ihrer Politik | |
verwandeln. | |
Schließlich waren die britischen Wahlen eben kein Votum gegen Mays | |
Brexit-Politik an sich. Es dominierten andere Themen. Darüber hinaus | |
stimmten 88 Prozent der Wähler für den Brexit samt Austritt aus dem | |
Binnenmarkt. So wird wohl Großbritannien im März 2019 die EU verlassen. | |
Dann wird es Übergangslösungen geben und eine neue Partnerschaft. Es | |
besteht aber kein Grund zur Sorge. Europa ist mehr als die EU und mehr als | |
Helmut Kohl. | |
18 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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