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# taz.de -- Labour-Partei auf Erfolgskurs: Britanniens coolster Schrebergärtner
> Völlig unerwartet schafft Jeremy Corbyn große Zugewinne, vor allem bei
> jungen Briten. Jetzt muss nur noch seine Partei hinter ihm stehen.
Bild: So cool, dass man ihn sogar als Strumpfhose tragen kann
Dublin taz | „Menschen unter 30 lieben Corbyn. Aber er ist ihnen nicht
wichtig genug, um ihre faulen Ärsche hochzukriegen und ihn zu wählen.“ Mit
diesen Worten hatte die Huffington Post vor der Wahl einen anonymen
Tory-Kandidaten zitiert.
Er hat sich geirrt.
Viele junge Briten trugen sich zum ersten Mal ins Wahlregister ein, um
wählen zu können. Um Jeremy Corbyn wählen zu können.
Sie bescherten Corbyns Labour-Partei ein nicht erwartetes Ergebnis: 261
Sitze holte sie, das sind 32 mehr als bei den Wahlen 2015. Der
Stimmenanteil kletterte von 31 auf 40 Prozent. Zum Vergleich: Tony Blair
hatte bei seinem zweiten Wahlsieg auch nur 41 Prozent erhalten.
Dabei hatte man Corbyn längst als Totengräber der Labour Party
abgeschrieben. Seine eigenen Abgeordneten hatten eine verheerende
Wahlniederlage erwartet, sie wollten ihn und sein linkes Wahlprogramm
einmotten und die Partei auf den rechten Weg zurückführen.
## Anstand und Ehrlichkeit
Doch Jeremy Corbyn überraschte alle. Und obwohl er ein 68-jähriger
altmodischer Marxist mit Schrebergarten sei, erscheine er cooler als
Kandidaten, die halb so alt seien wie er, analysiert die junge Journalistin
Rhiannon Lucy Cosslett im Guardian. Ihre Generation habe die Nase voll von
Tories, die vom kostenlosen Studium profitiert haben und als Politiker dann
die Studiengebühren saftig erhöhten, sodass sich Studierende langfristig
verschulden müssen.
Aus diesem Grund hat Labour so gut in den Universitätsstädten
abgeschnitten. In Cambridge zum Beispiel hatte der Labour-Kandidat 2015
knapp, mit 1 Prozentpunkt Vorsprung, vor den Liberalen Demokraten gesiegt.
Diesmal waren es 23 Prozent.
Doch es sind nicht nur junge Briten, die für Corbyn stimmten. Es sind auch
ältere Menschen, die unter der Austeritätspolitik der Tories leiden. Es
sind die Wähler der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party
(Ukip), die nicht – wie erwartet – zu den Tories übergelaufen sind, sondern
massenhaft zu Labour zurückkehrten. Corbyn kommt bei ihnen allen an, weil
er Anstand und Ehrlichkeit ausstrahlt.
Er habe zudem auf persönliche Beleidigungen verzichtet. „Er ist stets
freundlich aufgetreten und auf die Menschen zugegangen, wozu May von Natur
aus nicht in der Lage ist“, schreibt Rhiannon Lucy Cosslett. Die Tories
haben den Fehler gemacht, ihre Wahlkampagne auf Theresa May zuzuschneiden.
## Corbyns radikales Wahlprogramm
Außer dem Daily Mirror waren dennoch sämtliche Tageszeitungen bis zum
Schluss für May und vehement gegen Corbyn. Selbst der Guardian, der
halbherzig zur Wahl von Labour aufrief, hatte immer wieder feindselige und
oft gehässige Artikel im Blatt, seit Corbyn zum Labour-Chef gewählt wurde.
„Junge Leute lesen keine Tageszeitungen“, so Coslett, „und in den sozialen
Medien kam Corbyn viel besser weg.“
Vor allem ist es jedoch Corbyns Wahlprogramm, das für den Labour-Aufschwung
verantwortlich ist. Corbyn wollte den maroden Zustand des Nationalen
Gesundheitsdienstes beheben, Bildungswesen und Sozialdienste finanziell
besser ausstatten, Nullstundenverträge unterbinden, Post und Eisenbahn
verstaatlichen, wenn die Verträge mit den Privatfirmen ausgelaufen sind,
und eine Million Sozialwohnungen bauen. Finanziert werden sollte das durch
eine Erhöhung der Steuern für Unternehmen und Superreiche.
Es ist bezeichnend für den Zustand der Politik nicht nur in Großbritannien,
dass ein solches Programm als radikal gilt. Dabei lehnt Corbyn nicht mal
den britischen Beitrag zur Nato und die Erneuerung der britischen
Atom-U-Boot-Flotte ab.
Ironischerweise profitierte Corbyn auch vom Brexit-Referendum. Viele junge
Leute waren wütend, dass die Alten, die das kaum noch werden ausbaden
müssen, Großbritannien mit ihren Stimmen aus der EU gezerrt haben. Man warf
den unter 30-Jährigen damals vor, den Brexit mitverschuldet zu haben, weil
sie nicht zur Wahl gegangen waren. Das sollte ihnen kein zweites Mal
passieren.
## „Er steht für Hoffnung“
Aber Corbyn ist kein Proeuropäer, er setzte sich vor dem Referendum nicht
sehr überzeugend für den Verbleib in der EU ein, weil seine Partei dafür
war. In den Wahlkreisen, die für den Verbleib in der EU gestimmt hatten,
liefen dennoch 8 Prozent der Wähler von den Tories zur Labour Party über.
In den Brexit-Wahlkreisen hingegen gab es eine Wählerwanderung von 1
Prozent von Labour zu den Tories.
Die Labour-Strategen hatten zunächst befürchtet, dass sich der in den
letzten Wochen prognostizierte Aufschwung sich lediglich in größeren
Mehrheiten in ihren ohnehin sicheren Wahlkreisen niederschlagen würde. Das
erwies sich als unbegründet. Labour konnte den Tories überraschend Sitze in
Städten wie Canterbury, Plymouth und Ipswich abnehmen. Der Stimmenzuwachs
der Tories konzentrierte sich dagegen auf die Wahlkreise, in denen sie
bereits den Abgeordneten stellten.
Ayesha Hazarika, die frühere Beraterin des damaligen Labour-Chefs Ed
Miliband, der 2015 bei der Wahl gegen David Cameron verloren hatte, räumt
ein: „Ich habe mich in Corbyn geirrt. Er hat die politischen Regeln von dem
Augenblick an, als er für die Labour-Führung kandidierte, in die Tonne
getreten.“
Er habe dafür gesorgt, dass die Partei ihr radikales Herz wiederentdeckte.
„Wir hatten bei so vielen Themen unseren Mut verloren“, sagt sie. „Corbyn
steht für Hoffnung, für das, wonach sich die Menschen sehnen.“ Nun müssen
sich alle Abgeordneten hinter ihn stellen, fordert sie.
Was hätte sein können, wenn schon diesmal alle an einem Strang gezogen
hätten, statt den nächsten Putschversuch zu planen? Vielleicht nimmt sich
die Labour-Fraktion das Ergebnis ja zu Herzen und behält Corbyns linken
Kurs bei.
9 Jun 2017
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
## TAGS
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