| # taz.de -- Die Wahrheit: Frag das Volk! | |
| > Politische Winkelzüge: Theresa May ist bei Wahlen gescheitert. Hätte sie | |
| > sich doch nur an historischen Vorbildern orientiert. | |
| Bild: Dem Volk aufs Maul schauen und dann so tun, als ob man wohlwollend lacht:… | |
| Groß war das Gelächter, geradezu hämisch die Kritik, als die britische | |
| Premierministerin Theresa May in der vorigen Woche grandios daran | |
| scheiterte, sich mit vorgezogenen Neuwahlen eine noch breitere | |
| Unterstützung für die Brexit-Verhandlungen zu organisieren. May haben ein | |
| „riskantes Spiel betrieben“, nun liege sie im „politischen Wachkoma“, | |
| schrieb die Welt, von der „eiernden Lady“ sprach Spiegel Online, der Stern | |
| glaubte gar eine „Kaiserin ohne Kleider“ zu erkennen. | |
| Viele fühlten sich an Mays Parteikollegen David Cameron erinnert, der | |
| jahrelang gegen die Europäische Union polemisiert hatte, um sich dann vom | |
| Volk ein proeuropäisches Votum zu erbitten – mit den bekannten Folgen. Die | |
| meisten Beobachter in Berlin und Brüssel bezweifeln inzwischen, dass die | |
| Tories, wie bislang angenommen, wirklich ein politischer Talentschuppen | |
| sind. | |
| Dabei gibt es in der Geschichte durchaus Beispiele dafür, wie große | |
| Staatsmänner mit vergleichbaren Winkelzügen enormen politischen Erfolg | |
| einheimsen konnten. Hier folgen ein paar lehrreiche Beispiele: | |
| ## Beispiel Gerhard Schröder | |
| Es ist nicht allzu lange her, da galt Deutschland als der „kranke Mann | |
| Europas“. Die Wirtschaft lag darnieder, die Manager verarmten und die | |
| Arbeitslosen lümmelten sich in den Hängematten. Es brauchte einen | |
| politischen Visionär wie Gerhard Schröder, um das Land aus der Malaise zu | |
| führen. Schröder wusste, dass es „kein Recht auf Faulheit“ gab, und so | |
| handelte er. Der Wirtschaft sollten wieder mehr Menschenrechte eingeräumt | |
| werden, keinem Manager sollte es schlechter gehen, und die Arbeitslosen | |
| sollten von ihrem Müßiggang befreit werden. Zusammen mit seinem | |
| Rotlichtstrategen Peter Hartz entwickelte er hierfür die Hartz-IV-Gesetze. | |
| Diese aber verordnete er nicht einfach per Dekret, nein, er ließ über sie | |
| abstimmen – beim Jahrestreffen des Bundesverbands der Deutschen Industrie. | |
| Der Urnengang wurde zu einem Triumphzug für Schröder. Nur aus | |
| privatwirtschaftlichen Gründen zog er sich kurze Zeit später aus der | |
| Politik zurück. | |
| Ähnlich geschickt demokratisch eingefädelt war die Mobilisierung der | |
| Deutschen zum totalen Krieg gegen den Rest der Welt während des Dritten | |
| Reichs. Selbst die vergleichsweise autoritär regierenden | |
| Nationalsozialisten holten sich hierfür das Plazet der Bevölkerung ein. | |
| „Wollt ihr den totalen Krieg?“, fragte Reichspropagandaminister Joseph | |
| Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast das versammelte | |
| deutsche Volk. Ein donnerndes Ja schallte ihm entgegen. Wie Historiker | |
| später herausfanden, hatten die Nationalsozialisten beabsichtigt, bei einem | |
| Nein von der Regierung zurückzutreten. | |
| Nicht nur die jüngere Geschichte zeigt Beispiele, wie durch | |
| Volksbefragungen politische Vorhaben durchgeboxt werden können. 333 v. | |
| Christus etwa kam es bei Issos zu dem berühmten Gemetzel, das als | |
| „Alexanderschlacht“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Kein | |
| Geringerer als Alexander der Große wollte den Persern unter Dareios III. | |
| zeigen, wo es langgeht. Und selbstverständlich bat er vor diesem wichtigen | |
| Völkerringen seine Untertanen um Zustimmung. Doch die Volksbefragung nahm | |
| in dem riesigen Reich, das noch keine Telekommunikation wie in heutigen | |
| Tagen kannte, einige Zeit in Anspruch, weshalb sich der Beginn der Schlacht | |
| um vier Jahre verzögerte. Zum Glück für viele Schülerinnen und Schüler, | |
| denn den Spruch „337 vor Issos Keilerei“ hätte sich niemand merken können. | |
| ## Beispiel Helmut Kohl | |
| Auch das letzte Beispiel zeigt, wie ein geschickter Staatenlenker sein Volk | |
| in schicksalhafte Entscheidungen einbeziehen kann. Sechzehn Jahre lang | |
| regierte der inzwischen legendäre Helmut Kohl Deutschland, und zwar ohne | |
| irgendetwas zu tun. „Aussitzen“ hieß das Motto seiner Regentschaft. Nun | |
| könnte man meinen, fürs Nichtstun brauchte er auch keine Zustimmung. Weit | |
| gefehlt! Alle vier Jahre ließ sich Kohl in bundesweit inszenierten „Wahlen“ | |
| durch das Volk im Amt bestätigen. Wieder tat er vier Jahre lang rein gar | |
| nichts – beauftragt durch das eigene Volk. | |
| Auch das ein Beleg dafür, dass man, egal was für einen groben Unsinn man | |
| vorhat, die Menschen durchaus auf seine Seite bekommen kann – wenn man es | |
| nur richtig anstellt. Aber ob das letztlich ein Trost ist für Theresa May? | |
| 13 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Wirner | |
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