# taz.de -- Udo Lindenberg in Berlin: Die Rock-’n’-Roll-Strolche leben noch | |
> Lebendiges Kulturerbe: Udo Lindenberg, Fossil des deutschen Rock, spielte | |
> in der Berliner Waldbühne – und tanzte in neongrünen Slippern. | |
Bild: Udo Lindenberg: Einer muss den Job ja machen! | |
Eine Sorge kann Udo Lindenberg einem an diesem Konzertabend nehmen: Dass | |
dies womöglich seine letzte große Tournee sein könnte. Dieser Gedanke | |
schwingt unweigerlich mit, nachdem in den vergangenen Jahren das | |
Artensterben der Rock’n’Roll-Urviecher eingesetzt hat. „Wir machen | |
mindestens noch 30 Jahre“, sagt Lindenberg hingegen, als die Show schon | |
fast zwei Stunden alt ist, „und bis dahin ist die Medizin so weit, dass wir | |
noch mal 30 Jahre verlängern.“ | |
Wenn man den 71-Jährigen mit seinem Panikorchester am Freitagabend auf der | |
Berliner Waldbühne erlebt, hält man selbst das nicht für unmöglich. Zwei | |
Konzerte hintereinander gibt Lindenberg im äußersten Berliner Westen, | |
zweimal ist der Abend mit 22.000 Besuchern ausverkauft – und zweimal singen | |
wohl etwa 90 Prozent davon jede Zeile mit, die Udo Lindenberg ihnen | |
serviert. | |
„Familientreffen“, nennt er selbst seine Auftritte; und wenn er die Songs | |
ansagt, mit dieser Udostimme, die zu Beginn ein paar Nuancen tiefer klingt, | |
ehe er ein bisschen Wasser gurgelt und sich langsam warmsingt, dann setzt | |
er meistens mit der Einleitung „Liebe Freunde“ an. Nach den Songs sagt er | |
Sätze wie: „Danke für Eure Liebe.“ Es ist Teil des Phänomens Udo | |
Lindenberg, dass diese Worte aus seinem Munde nicht schal klingen. | |
## Streichholzbeine und Nietengürtel | |
Zum diesem Phänomen gehört auch, wie Lindenberg, der Anfang der Siebziger | |
seine Solokarriere startete, sich auf der Bühne gibt. Wie er seine | |
Streichholzbeine, gehüllt in eine eng anliegende, schwarze Polyesterhose, | |
über der ein Nietengürtel hängt, in gut zwei Stunden Show über den Laufsteg | |
bewegt. Wie er zum Ende der Songs zu Boden geht, dann wieder aufsteht und | |
sich seinen Duettsängerinnen zuwendet, ihnen dankt – immer mit Küsschen auf | |
den Mund, Umarmen, Streicheln. | |
Wie er die Sonnenbrille, die direkt am obligatorischen Hut zu kleben | |
scheint, abnimmt und große, staunende, kajalgeschminkte Augen darunter zum | |
Vorschein kommen. Und wie er mit diesem Move einer Songzeile nachkommt, die | |
er in „Stärker als die Zeit“, dem Titelsong des aktuellen Albums, singt: | |
„Ich nehm die Sonnenbrille ab/ check den Moment/ Wenn eine Seele/ die | |
andere erkennt“. | |
Staunen, den Moment checken. Dazu lädt dieser Konzertabend geradezu ein. | |
Denn dass Udo Lindenberg heute von allen Seiten als lebendes deutsches | |
Kulturerbe gefeiert wird, dass über sein Werk von den Pop-Checkern bis zum | |
Deutschrocker, vom Feuilleton bis zum Fabrikarbeiter Übereinkommen | |
herrscht, ist alles andere als selbstverständlich. Zwar war der Musiker mit | |
„Alles klar auf der Andrea Doria“, „Sonderzug nach Pankow“ zu Mauerzeit… | |
eine deutsch-deutsche Institution. In den Neunzigern aber, bis weit in die | |
Nullerjahre hinein, wurde Lindenberg zu einer schlechten Karikatur seiner | |
selbst. | |
## Wunderbare Selbstironie | |
Er hat die Kurve gekriegt. Und nun feiert er dieses Kurve kriegen. Mit | |
einer Unterhaltungsshow, an der manches überflüssig ist, bei der man aber | |
am Ende den albernen Schnickschnack auch gut ausblenden kann. | |
Zu letzterem gehört etwa, dass der langjährige Lindenberg-Kumpan Otto | |
Waalkes auf die Bühne kommt und mit Gitarrist Jörg Sander sein eher | |
peinliches deutsches AC/DC-Cover („Auf dem Heimweg wird’s hell“) zum Best… | |
gibt. Naja. Es bleibt einer der wenigen Fremdschäm-Momente. | |
Die Revue insgesamt – viele Frauen in schwarzen Netzstrümpfen, der Nachbau | |
der berühmten New-York-Fotografie „Lunch atop a Skyscraper“, ein Kinderchor | |
mit Hüten – passt gut zum alten Lindenberg. Das Eingangsmotiv kommt aus der | |
„Odyssee“ – so heißt auch das angedeutete erste Stück, auf welches das | |
wunderbar selbstironische „Einer muss den Job ja machen“ folgt. Mit an Bord | |
hat Lindenberg unter anderem seine langjährige Gitarristin Carola | |
Kretschmer sowie seine Gitarristen Sander und Steffi Stephan. Mit einem | |
kurzen „Yeah“ dankt er es allen Panikorchester-Mitstreitern (wobei es eher | |
wie „Jääh“ klingt bei ihm). | |
Es folgt ein bunter Reigen, ehe Lindenberg zum Schluss des Auftritts – | |
inzwischen trägt er neongrüne Slipper und ein glitzerndes Jackett – als | |
Astronaut ins All gejagt wird. | |
## Deutscher Konsenskünstler | |
Lindenberg spielt eine Mischung aus alten Hits und Stücken von „Stark wie | |
zwei“ (2008) und „Stärker als die Zeit“ (2016), jenen späten | |
Vermächtnissen, die aus ihm erst den deutschen Konsenskünstler von heute | |
gemacht haben. Wie gut sich das für ihn anfühlt, kann man erahnen, wenn er | |
während der Song-Autobiografie „Plan B“ locker über die Bühne steppt und | |
singt: „Ich sag Goodbye zu der Lebensänderungsschneiderei/ ich bin doch | |
kein Schnarcho/ Nee, Baby, kriegst mich nicht klein/ ich war schon immer | |
so'n rollender Stein/ mehr so'n Anarcho“. | |
Dass Lindenberg eine selbst erschaffene Kunstfigur ist, die man – wie oft | |
im Deutschrock – für seine Authentizität feiert, wirkt bei ihm wie ein | |
Paradoxon, das nicht gelöst werden muss. | |
Vielleicht deshalb, weil dieser Udo Lindenberg ein Integrator erster Klasse | |
ist. In den Reihen der Waldbühne sieht man zwei, manchmal drei Generationen | |
zusammenkommen, es trifft sich nicht nur die Rockfamilie, auch die | |
biologische Familie. Ein Junge, wohl in den späten Nullerjahren geboren, | |
singt „Andrea Doria“ mit, einen Song von 1973. Seine Mutter, mit schwarzem | |
Hut und Nasenring, tanzt auf den Bänken. | |
Ein paar Meter weiter steht ein volltätowierter Typ mit Weste und nacktem | |
Oberkörper, gefolgt von einem Rentnerpärchen mit Verpflegungsrucksack. Alle | |
drei schauen beseelt drein, und während Lindenberg „Reeperbahn“ und „El | |
Dorado“ spielt und das Halbrund in der Waldbühne die Akkorde und Verse | |
aufsaugt, da beschlagen auch dem Typen neben ihnen, dem Autor dieser | |
Zeilen, die Augen. | |
Angenehm, dass Lindenbergs politische Worte, die er seinem Stück „Wozu sind | |
Kriege da?“ voranstellt, unprätentiös rüberkommen. „Manchmal denke ich m… | |
dass es ein Weltgewissen gibt, das aufjaulen müsste“, sagt er; er spricht | |
über die Toten in Somalia, Südsudan und Syrien, er spricht von „Schwachmat | |
Trump“ und dem eingesetzten „Versuchssultan in Istanbul“. | |
Vielleicht klingt dies bei ihm auch deshalb glaubwürdiger als bei manch | |
anderem, weil er genanntes Antikriegslied von 1981 durch alle | |
popkulturellen Moden hindurch gerettet hat und mit seinen Auftritten | |
irgendwie auch das Erbe von Hippie und ’68 repräsentiert – auf den Tag | |
genau 50 Jahre nach dem Initiationsereignis der Gegenbewegung. In jenen | |
Jahren übrigens – 1969 war es – stieg der damalige Schlagzeuger Udo Gerhard | |
Lindenberg bei seiner ersten größeren Band ein, der Folkrock-Gruppe City | |
Preachers. Knapp ein halbes Jahrhundert später, so sagt er nun während des | |
Auftritts, „leben diese Rock-’n’-Roll-Strolche immer noch.“ | |
Und wie. | |
5 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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