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# taz.de -- Türkische Diaspora in Deutschland: New Wave Berlin
> Wegen der politischen Lage in der Türkei sind viele Istanbuler
> Intellektuelle und Künstler nach Berlin migriert. Vier Protokolle.
Bild: Immer mehr Türken finden in Berlin ein neues Zuhause
Deutschland – das ist auch 55 Jahre nach der ersten Einwanderungsbewegung
eines der beliebtesten Ziele von Menschen, die aus der Türkei emigrieren
wollen. Und zwar egal, ob sie sich aus politischen oder persönlichen
Gründen dafür entscheiden. Berlin, wo bereits über 200.000 Menschen mit
einer Herkunftsgeschichte aus der Türkei wohnen, erlebte im Laufe der
vergangenen Jahre eine neue Migrationswelle von Intellektuellen,
Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen. Für Kreise,
denen in der Türkei ihr Lebensraum wegbricht, entsteht hier ein kleines,
freies Istanbul und eine Alternative zum Istanbuler Szeneviertel Cihangir,
wo sich diese Menschen früher trafen.
Auch wenn sie sich vielfach in Stadtteilen wie Kreuzberg und Neukölln
bewegen, wo auch viele Migrant*innen früherer Generationen leben, kreuzen
sich die Wege der neuen, türkeistämmigen Diaspora mit denen der älteren
kaum. Ein Teil bezeichnet sich bereits als „New Wave in Berlin“. Mit den
Locations, die sie aufsuchen, den alternativen Sendern und Zeitschriften,
Schulen und Vereinen, die sie gründen, entwickeln die
New-Wave-Berliner*innen im Eiltempo ihren eigenen Lebensstil in Berlin.
Die neue Diaspora ist höchst politisch, zugleich untereinander stark
vernetzt. Wir haben vier Personen in Kreuzberg getroffen, um über
Solidarität und Engagement in Berlin zu reden und die Dynamik der neuen
Diaspora zu verstehen, die sich da gerade etabliert.
Die DJ
„Ich sehe mich als Istanbulerin, aber Berlin ist mein Zuhause“, sagt die
28-jährige Hüma Utku, die an der Bilgi-Universität in Istanbul Psychologie
studiert hat. Nach ihrem Abschluss sagte sie sich, sie könne in der Türkei
nicht existieren, und zog nach Deutschland. Seit fünf Jahren arbeitet sie
nun als DJ und Produzentin elektronischer Musik in Berlin. Dass 2016 viele
weitere Istanbuler*innen herzogen, freut sie: „Manchmal fühle ich mich, als
sei ich gerade in meinem alten Viertel Kadıköy unterwegs. Läden, die ich
aus Istanbul kenne, eröffnen nun Filialen in Berlin.“
Hüma Utku fragt sich oft, warum sich die Wege der neuen und der alten
türkischen Diaspora so selten kreuzen. „Die Leute aus Arbeiterfamilien, die
schon in der 1960er Jahren nach Deutschland auswanderten, leben hier ein
ganz anderes Leben, als wir es kennen“, sagt sie. „Klassenunterschiede
spielen eine wichtige Rolle. Klassendenken wird einem in der Türkei schon
als Kind eingeprägt. So kann eine Uni-Absolventin in Deutschland einen
Taxifahrer heiraten, ohne dass ihre Familie sie dafür verurteilt. In der
Türkei wäre das anders. Oder: In Deutschland kannst du mit einem Taxifahrer
den ganzen Abend in derselben Bar abhängen, ohne das auch nur zu bemerken.
In der Türkei aber sind soziale Räume klar abgegrenzt.“
Der Filmemacher
„Was im Augenblick in der Türkei vor sich geht, ähnelt stark dem Geschehen
im Deutschland von 1933“, sagt Mustafa Altıoklar. „Auch damals verließen
Wissenschaftler und Künstler ihr Land auf der Flucht vor den Nazis.“
Mustafa Altıoklar ist einer der bekanntesten Regisseure und Filmproduzenten
der Türkei. Im Jahr 2016 kam er im Alter von 58 Jahren nach Berlin. Das
vergangene Jahr schildert er als „Situation eines Menschen, der mit einem
Betonklotz ins Wasser geworfen wurde, dann das Seil durchtrennt, auftaucht
und wieder Luft holt“. Er sagt aber auch: „Im Laufe des vergangenen Jahres
bin ich wieder zu Atem gekommen. Berlin ist eine sehr freie Stadt.
Andererseits ist das hier nicht mein Terrain, nicht mein Gewässer. Ich
sehne mich nach Istanbul.“
Auch Altıoklar hat sich in Berlin politisiert. Er arbeitet an einem
Filmprojekt, das die sozialen Probleme Deutschlands und der Türkei
konvergiert, und unterrichtet zugleich an einer Schauspielschule, die er in
Kreuzberg gegründet hat. Sein Traum ist es, diese Schule zu einem Raum zu
machen, wo junge Leute, die aus der Türkei ins Exil gehen mussten, eine
cineastische Ausbildung bekommen können.
„Wir haben es geschafft, hier mit zahlreichen Leuten zusammenzukommen, mit
denen es in der Türkei nur Streit gegeben hätte“, sagt Altıoklar über sein
neues Leben.
„Wir haben gemeinsame Sorgen, suchen nach ähnlichen Dingen. Da ziehen wir
uns an wie Magnete. Das ist eine Schicksalsgemeinschaft. Interessant, dass
uns das erst hier aufgegangen ist“, sagt er.
Der Akademiker
„Ich habe mich rasch in Berlin eingelebt und mich gewissermaßen gar nicht
wie im Exil gefühlt. Ich fühle mich, als hätte ich die linken Viertel der
nordtürkischen Großstädte nie verlassen“, sagt Muzaffer Kaya. Der
Akademiker gehört zu den im Jahr 2016 in der Türkei verhafteten
Unterzeichner*innen des Friedensappells, er ist einer der über hundert nach
Deutschland gekommenen Wissenschaftler*innen dieser Initiative. Seit
Oktober arbeitet er als Forschungsassistent in Berlin.
Er lächelt, als er davon spricht, wie er das Zusammenleben diverser
Identitäten in Berlin empfindet: „Anfangs kommt es einem komisch vor, wenn
man auf einer Gay-Party sieht, wie Leute aus der Stadt Dersim den
traditionellen Halay tanzen, aber es ist ja gerade diese Vielfalt, die
Berlin so schön macht.“
Eine Solidaritätsakademie sei in Planung, wo junge Leute aus der Türkei
eine Ausbildung erhalten können, sagt Kaya und meint, die Solidarität
verschiedener Gruppen in Berlin untereinander könne die Türkei verändern.
„Ich hatte sofort Kontakt zur linken Community hier. Die hier mehrheitlich
lebenden Menschen aus der Türkei sind seit eh und je sowieso in Aleviten,
Kurden, Linke auf der einen und Konservative auf der anderen Seite
gespalten. Zu der einen Hälfte dieser Community haben wir begrenzten
Kontakt, zu der anderen überhaupt keinen.“
Vor allem die Neuankömmlinge stünden in enger Verbindung zueinander. „In
der Türkei standen wir eher fern voneinander, doch uns allen hat der
Faschismus eine Ohrfeige versetzt, hier stehen wir auf derselben Tribüne,
da schauen wir mehr auf Gemeinsamkeiten.“
Die queere Künstlerin
„Es ist eine Riesenerleichterung, hier die Speisen meiner Mutter zu finden
und Rakı trinken zu können. An einem Ort zu sein, wo auch andere Menschen
aus der Türkei sind, lindert das Heimweh“, sagt die 25 Jahre alte
Queer-Künstlerin Selin Davasse. „Trotzdem ist Berlin nicht halb so schön
wie Istanbul.“
Selin lebt seit zwei Jahren in Berlin, ihre Mutter, Professorin an der
Universität Ankara, wurde mit dem letzten Notstandsdekret entlassen. „In
der Türkei werden alle, die politisch nicht dem neoliberalen
Islamofaschismus nahestehen, als ‚die Anderen‘ diskriminiert, seither sind
sie im Grunde Exilanten im eigenen Land. Und wir leben hier wie Exilanten.
Wir hätten gern das Recht, ein menschenwürdiges Leben in der Türkei zu
führen. Aber das gibt es nicht. Das macht uns wütend, aber zugleich sind
wir auch diejenigen, denen es hier besser geht. Zumindest leben wir hier
nicht in Angst.“
Davasse verfolgt das Geschehen in der Türkei aus nächster Nähe. Auch sie
nimmt zwei türkeistämmige Diasporagruppen in Berlin wahr: „Mein
Freundeskreis hier besteht vor allem aus Queers, Akademiker*innen und
Künstler*innen aus der Türkei. Eigentlich müsste es möglich sein, auch mit
hier geborenen Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei
symbiotisch zu leben, aber keiner bemüht sich darum. Meines Erachtens
treten die Wellen des Konflikts zwischen AKP-Wähler*innen und
-Gegner*innen, die in der Türkei herrschen, hier genauso auf.“ Davasse ist
in Berlin weiter als LGBTI-Aktivistin unterwegs, etwa mit einer kritischen
Parodieperformance auf heterosexuelle Politiker.
Alle Texte aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
13 Jun 2017
## AUTOREN
Yagmur Ekim Cay
## TAGS
Türkei
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