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# taz.de -- Nachruf auf Joachim Kaiser: Bildungsbürger ohne Geistesqualm
> Er war einer der wichtigsten Kritiker der Nachkriegszeit. Der frühere
> SZ-Feuilletonchef Joachim Kaiser ist nun im Alter von 88 Jahren
> gestorben.
Bild: Interessierte sich stets für das, was Kultur genannt wird: Joachim Kaiser
Als sein Kontrahent galt Marcel Reich-Ranicki, und der war unserer
Öffentlichkeit in puncto Popularität heftig überlegen. „Literarisches
Quartett“, die vieltausendfach gelesenen Memoiren, das Leben als
Literaturchef der FAZ: Da war er, sein Kollege aus München, Joachim Kaiser
eher der Andere, der Leisere, was ein Stiller war auch er nicht. Der Sohn
aus musikinteressierter Landmedizinerfamilie in Milken, Ostpreußen, 1928
geboren, war, nach der Flucht als Jugendlicher in Hamburg zur Schule
gegangen, mit dem Abitur als Abschluss.
Das Wilhelm-Gymnasium an Hamburgs Alster weist auf die Triebkraft dieses
Mannes hin, auf das familiäre – und in jeder Hinsicht auch das eigene –
Streben: Bildung und Bürgerlichkeit. An dieser Schule war man garantiert
unter sich, hier wurden die Sprösslinge der Eliten mit dem nötigen Wissen
und Einschätzungsvermögen zu dem versehen, was im Leben zu zählen hat:
Fleiß, Gründlichkeit, Meriten, die nicht per Erbschaft einem zuteil werden,
Adelstitel etwa – und Ehrgeiz.
Joachim Kaiser interessierte sich stets für das, was Kultur genannt wird.
Und zwar im Sinne des Eigentlichen vom bürgerlichen Verständnis dessen, was
Kunst sein kann. Mehr jedenfalls als blödoide Erbauung, sondern Anregung,
Orientierung und Reflexionsmatrix in einem. Echoraum mit immer neuen
Stimmen und Einflüssen überhaupt. Der junge Kaiser, Mitglied der legendären
Gruppe 47, dem westdeutschen Literaturvatikan, wo – Grass!, Walser!,
Frisch! Enzensberger! and all that stuff – in der Nachkriegszeit die
literarische Rekonstruktion deutschsprachiger Literatur ausgehandelt wurde.
Kaiser war einer der, vielleicht der wichtigste, Stichwortgeber dieser
Versammlungen: Und das konnte er auch sein, als Redakteur der Süddeutschen
Zeitung, einer ihrer leitenden, vor allem im Feuilletons, ihr Schmuckstück
für die kulturbeflissenen (oder -bewussten) Kreise (je nach Lesart).
## Manchmal hochmütig, immer kommunikationsbereit
Autor der Frankfurter Hefte und anderer Selbstverständigungsmedien der
neobürgerlichen Ordnung der Nachkriegszeit war er ohnehin, viele sagen, der
eleganteste Stilist unter ihnen. Sein Entrée in die bildungsbürgerliche
Elite gelang Kaiser mit der Rezension eines für unlesbar gehaltenen Werkes
Theodor W. Adornos – dem intellektuellen Star der Jahre nach 1945, der
Remigrant, der wichtigste theoretische Stichwortgeber der nichtmilitanten
Teile der Achtundsechzigerbewegung.
Kaiser, das war sein Beitrag zur Zivilisationsgeschichte Deutschland nach
der NS-Zeit, hatte Lust und intellektuelles Vermögen, Adorno et al. zu
fördern und zu popularisieren – ohne ihn zu trivialisieren. Auch einer wie
Joachim Kaiser hielt sich an das Diktum, es gebe kein richtiges Leben im
Falschen. Was die einen für Adornos Diktum für den ewigen Unfrieden mit dem
Kapitalismus hielten, war für Kaiser in anderer Hinsicht sonnenklar: In
einer immer kulturloser werdenden Welt kann es kein Diktat der Kulturbürger
über alle anderen geben.
Mit anderen Worten: Joachim Kaiser, den man sich als oft heiter, manchmal
hochmütig, immer kommunikationsbereit vorstellen muss – war ein
Bildungsbürger ohne deutschen Geistesqualm der Bürgerlichkeit vor den
Nationalsozialisten, kein Antiplebejer aus Prinzip.
Er ist nun im Alter von 88 Jahren gestorben. Seine Verdienste um die
Konstruktion moderner Bildungsbürgerlichkeit in der Bundesrepublik sind
immens.
12 May 2017
## AUTOREN
Jan Feddersen
## TAGS
Literaturkritik
Süddeutsche Zeitung
Nachruf
Theodor W. Adorno
Kritik
Literarisches Quartett
Die Zeit
Marcel Reich-Ranicki
Tübingen
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