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# taz.de -- Die Wahrheit: Befreite Greise
> Weil immer mehr Menschen keinen Kontakt zu ihrem inneren Greis finden,
> bietet ein Age-Coach nun Kurse in altersgerechtem Verhalten an.
Bild: Wenn demo-erprobte Jahrgänge ins Greisenalter kommen, werden derartig fr…
„Alles begann damit“, erzählt Bernd Klapproth, „dass mich jemand fragte,
wie ich am Anfang mit der Gleitsichtbrille zurechtgekommen wäre. So beim
Treppensteigen vor allem.“ Der PC-Spezialist, der nebenbei im Internet
individuelle Brillenetuis vertreibt, hatte keinerlei Probleme. Als hätte er
sein Leben lang Gleitsichtbrille getragen. Keine Irritationen, kein
Stolpern durch falsche Fokussierung.
Wir treffen den jungenhaften Mittfünfziger – vom Typ her eine Mischung aus
Richard David Precht und einem Kirmesboxer – in einem lichtdurchfluteten,
holzgetäfelten Seminarraum im Erftkreis. „Vielleicht bin ich ein
Naturtalent“, sagt er ohne ein Spur von Überheblichkeit, „und wenn ich
schon gut in Gleitsichtbrille bin, handelt es sich bei mir vielleicht ganz
im Allgemeinen um ein Naturtalent im Altern.“
## Grauköpfe auf dem Pixies-Konzert
In ihm gärte eine Idee. Denn wer altert gerade? Schüttelt das graue Haar
auf Pixies-Konzerten? Spielt mit Weitsichtigkeit kämpfend am Smartphone
herum? Die geburtenstarken Jahrgänge. Ein enormer Markt. In kürzester Zeit
hatte der gelernte Heiopei ein Konzept zusammengeschustert und bietet jetzt
als „Age-Coach“ Gruppen-Kurse an: „Act your age – Den inneren Greis
befreien.“
„Im Bekanntenkreis habe ich 52-Jährige, die sich immer noch aufregen, wenn
sie von jungen Leuten gesiezt werden“, lacht Klapproth, „die haben
überhaupt keinen Kontakt zu ihrem inneren Greis.“
In seinen Wochenendseminaren lernt man, in Strickjacke auf dem Sofa zu
sitzen und mit dem Partner oder der Partnerin beim Fernsehen altersgemäße
Dialoge zu führen: „Mann, ist der alt geworden.“ – „Echt, lebt die noc…
„Der war doch mit der Dings zusammen, die in diesen Film da mitgespielt
hat, mit dem einen da, den du nicht leiden kannst.“
## Spießer und Jammerlappen
In weiteren Rollenspielen wird eingeübt, wie man Halbwüchsige in der Bahn
anraunzt, sobald sie die Füße auf die Sitze legen, oder wie man sich quasi
anlasslos über die Jugend von heute aufregt. „Hier hilft uns die
Textanalyse aktueller Songs“, sagt Klapproth, „der Sänger von
AnnenMayKantereit träumt in einem Lied beispielsweise davon, mit seiner
Freundin in eine Altbauwohnung im dritten Stock zu ziehen. Silbermond
fordern seit Jahren ‚Ein kleines bisschen Sicherheit‘. Das sind doch alles
Spießer und Jammerlappen.“
Klapproth versucht ganz bewusst, den Konflikt zwischen den Generationen zu
schüren, wenn auch teils mit umgekehrten Vorzeichen im Vergleich zu den
siebziger Jahren. Ohne Generationskonflikt, behauptet der selbstbewusste
Hobbytheoretiker, gäbe es keinen gesellschaftlichen Fortschritt.
„Gucken sie sich mal die Väter von heute an, die tragen teilweise die
gleichen Klamotten wie ihre Söhne. Abstrus!“ Klapproth nimmt einen
kräftigen Schluck aus der Mineralwasserflasche „Medium“: „Das sind doch
alterslose Wesen ohne Mut zu typischen Verhaltensweisen reiferer Menschen,
wie extremer Knurrigkeit oder breitärschiger Selbstgerechtigkeit!“
## Altern heißt sich gehen lassen
Doch niemand ist verloren, daran kann man arbeiten. Und wenn es nicht
reicht, von der Persönlichkeit her, hat der lebenslustige Lüdenscheider
dennoch eine Lösung: „Ein komischer Kauz steckt eigentlich in jedem. Der
ist oft durch die jahrzehntelange Anpassungsleistung verschüttet worden.
Jahrelang haben diese Leute um die Anerkennung des Umfelds geworben und
sich dabei verbogen. Altern handelt auch ganz stark davon, sich einfach mal
gehen zu lassen“, lächelt der lösungsorientierte Leptosom.
Altern sei im Grunde nicht besonders schwierig, es gäbe neben den ganzen
Krankheiten nur zwei wirklich ernstzunehmende Probleme. Erstens:
Altersarmut. „Da stehen uns vermutlich noch turbulente Auseinandersetzungen
bevor“, orakelt der Allrounder. Doch wir seien schließlich nicht
unvorbereitet: „Wer hat denn damals in Wackersdorf im CS-Gas-Nebel den
Staat herausgefordert? Wer hat sich mutig den Wasserwerfern
entgegengestellt? Wer ist bei sengender Hitze zwanzig Kilometer durch
Hamburg marschiert für den Scheißfrieden? Das waren wir. Und damals ging es
nur ums Prinzip. Diesmal geht es um unsere Existenz! Vielleicht gewinnen
wir ja doch die letzte Schlacht, auch wenn es eine andere ist, als wir
dachten.“
## Entfesselte Rollatoren
Ein bisschen dienen die Kurse also auch dazu, sich jetzt schon mal zu
vernetzen, damit man im Fall der Fälle zusammen Mülleimer anzünden und mit
dem Rollator Supermärkte plündern kann. „Die dann in der
Regierungsverantwortung stehenden Philipps, Leons, Anna-Lenas, Aishas,
Oskars und Özgürs werden schon sehen, was passiert, wenn die
geburtenstarken Jahrgänge mal richtig sauer werden.“
Zweites Problem des Alterns: Die Ellenbogen könnten hässlich werden. „Aber
auch dafür gibt es eine Lösung“, freut sich der Coach, „ich reibe meine
jetzt schon regelmäßig mit Franzbranntwein ein.“ Gesagt, getan. Und während
Klapproth umständlich seine knochigen Arme einreibt, schwindet alles
Jungenhafte aus seinem Gebaren. Kein Zweifel, genau jetzt ist er ganz eins
mit seinem inneren Greis.
16 May 2017
## AUTOREN
Christian Gottschalk
## TAGS
Senioren
Kolumne Die Wahrheit
Wirtschaft
Charlotte Roche
Kinder
Menschheit
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