| # taz.de -- Walpurgisnacht in Berlin: Gegen Verdrängung, für Solidarität | |
| > Im Berliner Bezirk Wedding gehen mehrere tausend Menschen gegen | |
| > Gentrifizierung auf die Straße. Der Protest ist bunt und bleibt | |
| > friedlich. | |
| Bild: Berlin-Wedding am Abend des 30. April | |
| Berlin taz | „Überall in Berlin ist die Luft am brennen“, ruft ein junger | |
| Mann vom Lautsprecherwagen. „Wir haben keinen Bock mehr auf steigende | |
| Mieten, Zwangsräumungen und Verdrängung“, ruft die Frau neben ihm ins | |
| Mikrofon. „Selbstorganisiert gegen Rassismus und Verdrängung“ – mit dies… | |
| Motto spricht die Demonstration, die am Sonntag unter dem Titel „Organize!“ | |
| drei Stunden lang durch den Wedding zog, eines der drängendsten Probleme | |
| Berlins an. Denn in keiner deutschen Großstadt sind die Mieten in den | |
| vergangenen zehn Jahren so extrem angestiegen wie in der Hauptstadt. | |
| Zwei Frauen mit Kopftuch laufen in der Nachmittagssonne hinter einem | |
| Transparent mit der Aufschrift „Veränderung selber machen“ her. Auf dem | |
| Rucksack der Demonstrantin neben ihnen prangt ein „Still not loving | |
| Police“-Aufnäher. Einige Reihen weiter hinten trägt ein junger Mann sein | |
| Baby im Tragetuch vor dem Bauch. Und während vorne an der Spitze des Zuges | |
| der typische Block aus jungen Leuten mit Kapuzenpullis und Sonnenbrillen | |
| seine Parolen ruft, bilden Familien mit Kinderwägen im „Kids Block“ das | |
| Ende der Demo. | |
| Insgesamt sind etwa 3.000 Menschen gekommen – mehr als in den Jahren zuvor. | |
| Am Ende des Tages wird die Polizei von einem friedlichen Verlauf des Umzugs | |
| sprechen. Ein Beamter sei durch einen Flaschenwurf leicht verletzt worden, | |
| ansonsten blieb es friedlich. | |
| „Wir sind eine Kiezdemo“, sagt Martin Steinburg, Pressesprecher des | |
| „Organize!“-Bündnisses. „Uns geht es darum, dass sich Nachbarinnen und | |
| Nachbarn vernetzen.“ Neben der Gruppe „Hände weg vom Wedding“, die die | |
| Walpurgisnachts-Demonstration 2012 in den Stadtteil holte, haben auch | |
| Organisationen wie die Erwerbsloseninitiative Basta, die Berliner | |
| Obdachlosenhilfe, der Sportverein Roter Stern oder die | |
| Geflüchteteninitiative Lager Mobilisation Berlin zu der Demo aufgerufen. | |
| Seit vergangenem Jahr startet der Zug schon am Nachmittag – mit den | |
| früheren Krawallen in der Nacht zum ersten Mai hat die Demonstration nicht | |
| mehr viel zu tun. Mit politischen Inhalten umso mehr. | |
| ## Hohe Mietsteigerungen | |
| „Dieser Neubau steht symbolisch für die voranschreitende Aufwertung des | |
| Stadtteils“, ruft die Frau auf dem Lautsprecherwagen. Der Demozug ist eben | |
| neben einer Baustelle zum Stehen gekommen – „Study in Style“ steht auf den | |
| Werbetafeln, die vom Baugerüst flattern. Das Gebäude in der Müllerstraße | |
| soll später einmal vollmöblierte Studierendenapartments enthalten – zu | |
| einem saftigen Quadratmeterpreis. | |
| Auf ihrer Route Richtung S-Bahnhof Gesundbrunnen wird die Demonstration | |
| noch an verschiedenen anderen Punkten Halt machen: In der Koloniestraße, wo | |
| Hausbewohner*innen gegen Mietsteigerungen nach dem Wegfall der Förderung im | |
| Sozialen Wohnungsbau gegen bis zu hundertprozentige Mieterhöhungen kämpfen. | |
| Im Sprengelkiez, wo die Gentrifizierung im Wedding mit am deutlichsten zu | |
| sehen ist, auch am Nauener Platz, der türkischen Nationalisten als | |
| Treffpunkt gilt. | |
| Nur kurz zuvor hatte ein Mann mit Türkeiflagge sich aus dem Fenstergelehnt | |
| und den Wolfsgruß gezeigt, das Handzeichen der nationalistischen türkischen | |
| Grauen Wölfe. Der Fall bleibt eine Ausnahme: Immer wieder passiert die Demo | |
| Balkone, von denen gentrifizierungskritische Transparente wehen und | |
| Nachbar*innen grüßen. Jeder Redebeitrag vom Lauti wird ins Arabische | |
| übersetzt. | |
| Gentrifizierung ist stadtweit ein Problem – im Wedding genau so wie in den | |
| Szenebezirken Neukölln oder Kreuzberg. Und so haben sich verschiedene | |
| Gruppen in die Mobilisierung zur Demo eingeklinkt. Der Neuköllner Kiezladen | |
| Friedel54 hat die Teilnehmer*innen einer Soli-Kundgebung gegen seine | |
| drohende Räumung kurzerhand in den Wedding geschickt, auch die | |
| Teilnehmer*innen einer Demonstration für den Kampf der Kurd*innen in Rojava | |
| haben sich nach Ende ihrer Demonstration zum Leopoldplatz begeben. Auch in | |
| Friedrichshain und auf dem „Selber machen“-Kongress in Kreuzberg gab es | |
| Vortreffpunkte, von denen Gruppen gemeinsam in den Wedding aufbrachen. | |
| ## Grundrecht auf Wohnen | |
| „Menschen haben ein Recht auf Wohnen in Würde“, sagt Frieder Krauß, ein | |
| Freiwilliger der Berliner Obdachlosenhilfe. Er ist froh, dass so Viele dem | |
| Aufruf gefolgt sind. „Die Vernetzung von Nachbarn und Nachbarinnen ist das | |
| beste Mittel gegen Verdrängung“, sagt er. Und: „Zwangsräumungen sind einer | |
| der Hauptgründe dafür, dass Leute auf der Straße landen.“ Deswegen sei es | |
| seiner Organisation leicht gefallen, sich dem Organize!-Bündnis | |
| anzuschließen – auch wenn die Berliner Obdachlosenhilfe nicht zu den | |
| typischen Akteuren linker Subkultur in Berlin zählt. | |
| Das Grundrecht auf Wohnen – es ist eines der Schlagworte, die sich Berlins | |
| rot-rot-grüne Regierung im Wahlkampf auf die Fahnen geschrieben hatte. Für | |
| die Leute im Bündnis ist das kein Grund, in ihrem Protest nachzulassen. | |
| „Dass das Thema Gentrifizierung heute überhaupt auf der Tagesordnung ist, | |
| ist vielen Basisorganisationen und Protesten von utnen zu verdanken“, sagt | |
| Bündnissprecher Steinberg. Zudem seien SPD, Linke und Grüne in den letzten | |
| Jahren an den Gentrifizierungsprozessen nicht unbeteiligt gewesen – „in der | |
| Regierung und in den Bezirken“, sagt Steinberg. Damit sich etwas ändere, | |
| brauche es deswegen die Vernetzung in der Nachbarschaft und den anhaltenden | |
| Druck von unten. | |
| „Eine sozial gerechte Stadt für alle statt rassistischer Polizeikontrollen, | |
| Zwangsräumungen und Lagerindustrie“, ruft es vom Lautsprecherwagen. „Das | |
| kann keine Partei erreichen, das können nur wir!“ Um dieses Ziel zu | |
| verwirklichen, belässt das Bündnis rund um Hände weg vom Wedding es nicht | |
| bei einer Demonstration im Jahr. Einmal im Monat lädt die Gruppe zu einem | |
| gemeinsamen Kneipenabend ein, auf ihrer Webseite verweisen sie auf | |
| zahlreiche andere Gruppen und Initiativen im Stadtteil. Wenn es um | |
| Vernetzungsstrategien geht, ist das Bündnis ganz pragmatisch: „Heute | |
| Nachmittag demonstriert ihr noch hier mit uns gegen Rassismus und | |
| Verdrängung“, ruft die Rednerin der Menge zu. „Aber schon morgen oder sogar | |
| heute Abend könnt ihr bei euren Nachbarinnen und Nachbarn klingeln. Lernt | |
| euch kennen und haltet zusammen!“ | |
| 30 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
| ## TAGS | |
| Gentrifizierung | |
| Soziale Bewegungen | |
| Wedding | |
| Friedel54 | |
| Wohnen | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Zusammenleben am Leopoldplatz: „Plätze sind Bühnen des Stadtlebens“ | |
| Gestört zu werden, gehöre zum Stadtleben dazu, sagt Stadtforscher Stephan | |
| Lanz. Wer wie öffentlichen Raum nutzt, sei auszuhandeln. | |
| Räumungstermin für Kiezprojekt Friedel54: Schicksalstag für die linke Szene | |
| Am 29. Juni soll der Neuköllner Kiezladen geräumt werden – und wird auch | |
| über die „Kadterschmiede“ in Friedrichshain verhandelt. Proteste sind | |
| angekündigt. | |
| Debatte um Mietkosten und Wohnraum: Brauchen wir Mini-Wohnungen? | |
| Weniger ist mehr. Gilt das auch fürs Wohnen? Oder profitiert vom Trend zu | |
| kleinen Wohnungen nur die Immobilienbranche? Ein Streitgespräch. | |
| 1.-Mai-Demo in Berlin-Kreuzberg: Spaziergang mit viel Feuer | |
| Die 18-Uhr-Demo ist ohne größere Zwischenfälle nach knapp zwei Stunden zu | |
| Ende gegangen. Es gab mehrere Festnahmen. | |
| 30 Jahre Maikrawalle: Kreuzberger Märchen sind alt | |
| Seit 1987 sucht die linke Szene am 1. Mai den Schulterschluss mit der | |
| „Normalbevölkerung“. Das gelingt den Rest des Jahres über viel besser. | |
| 30 Jahre Kreuzberger Mai-Krawalle: Die Geburt eines Mythos | |
| Am 1. Mai 1987 legten Teile der Kreuzberger Bevölkerung ihren Kiez in | |
| Schutt und Asche – der Beginn einer langen Konfrontation zwischen Linken | |
| und Polizei. | |
| Umstrittener Google Campus in Berlin: „Wir wollen ein guter Nachbar sein“ | |
| Ende des Jahres eröffnet ein Google Campus im Umspannwerk in der Ohlauer | |
| Straße. Im Kiez gibt es Protest. Google-Sprecher Ralf Bremer setzt auf | |
| Dialog. |