# taz.de -- Kommentar Leichtathletik-Weltrekorde: Eine Enteignung der Sportler | |
> Der Leichtathletikverband will alte Weltrekorde annullieren, um neue | |
> einzuführen. Was ist das nur für eine irrsinnige Idee! | |
Bild: Zum Glück keinen Weltrekord gelaufen: Hallen-Leichtathletik-Rennen in Bi… | |
„Revolutionär“, „scharfer Schnitt“: Was der europäische | |
Leichtathletikverband fordert, findet erstaunlich viel Lob. Dabei geht es | |
um etwas Destruktives: die Annullierung eines Großteil der Weltrekorde. | |
So stellen sich die europäischen Funktionäre das vor: Die Voraussetzungen | |
dafür, dass ein Rekord ein Rekord ist, sollen auch rückwirkend gelten, etwa | |
der Nachweis, sehr oft kontrolliert worden zu sein, oder eine 10-jährige | |
Aufbewahrungsfrist der Proben. | |
Muss man sich einen Weltrekord künftig vorstellen wie einen Steuerbescheid? | |
Unterlagen aufheben? Revisionsurteile einkalkulieren? Beruhigend ist | |
allenfalls, dass sich für die neuen, also dann: „richtigen“ Weltrekorde | |
niemand interessieren wird; schließlich gibt es doch so etwas wie ein | |
Weltgedächtnis. Wir wissen doch, dass Usuain Bolt 9,58 Sekunden über 100 | |
Meter gelaufen ist. Die Welt hat es doch gesehen. | |
Ein Weltrekord reklamiert für sich, die beste Leistung zu sein, die ein | |
Mensch bis dahin je geschafft hat. Das ist die Aura, die den Rekord für | |
Sportler und Publikum so wertvoll macht. Selbstverständlich muss diese | |
Leistung regulär zustande gekommen sein. Messbarkei in Zentimetern, Gramm | |
oder Sekunden ist eine Voraussetzung, die Gleichheit der Bedingungen auch. | |
Der Sport ist eben ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft; erst seit | |
weltweit gemessen wird, gibt es Weltrekorde. | |
Aber überprüfbar dopingfrei muss er doch auch sein, rufen nun die | |
Befürworter der „Revolution“. Als könne man den Nachweis erbringen, nicht | |
manipuliert zu haben! Ja, als könne es das, was da gefordert wird, | |
überhaupt geben: eine Leistung, erbracht von reinen, natürlichen | |
Menschenkörpern. | |
## Neuanfang abgelehnt | |
Etliche Athleten wehren sich gegen die geplante Regeländerung. Mike Powell, | |
der 1991 mit 8,95 Meter den (noch!) gültigen Weltrekord im Männerweitsprung | |
hält, spricht von Respektlosigkeit. Wie sollte einer wie er heute noch | |
nachweisen können, dass vor 26 Jahren alles richtig war – und zwar gemäß | |
dem, was heute verboten und erlaubt ist? | |
Die Leichtathletik hatte Ende der neunziger Jahre die Chance, einen | |
würdigen Neuanfang hinzukriegen. Damals lag der Vorschlag von | |
„Jahrhundertrekorden“ auf dem Tisch: Was bislang die Weltbestleistung war, | |
wäre als „Rekord des 20. Jahrhunderts“ festgeschrieben worden. Doch der | |
Vorschlag, von dem Sportsoziologen und damaligen Präsidenten des Deutschen | |
Leichtathletikverbandes, Helmut Digel, vorgetragen, wurde abgelehnt – weil | |
er angeblich eine Annullierung bedeutet hätte. | |
Das war er in Digels Intention gerade nicht. Er wäre eben keine Aberkennung | |
der Rekorde gewesen, sondern vielmehr die Akzeptanz, dass das | |
Sportverständnis sich wandelt. Athleten wie der finnische Wunderläufer der | |
zwanziger Jahre, Paavo Nurmi, oder der Star von 1936, Jesse Owens, hätten | |
heute keine Chance mehr – weil sie sich nicht so kontrollieren ließen. | |
Etliche Athleten wehren sich derzeit gegen das immer rigider werdende | |
Kontrollregime: 24/7-Überprüfbarkeit, Urinieren vor fremden Kontrolleuren, | |
sogar die Implantierung von Chips unter der Haut wird diskutiert. Gerade in | |
einer Zeit, wo es wichtig ist, die Rechte der Athleten zu stärken, kommt | |
der Verband mit dem Versuch um die Ecke, Sportlern ihre Rekorde zu | |
enteignen. | |
7 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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