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# taz.de -- Avraham Burg über Israels Linke: Im Land des Schweigens
> Die politische Linke in Israel ist kollabiert. Den Kampf gegen die
> Besatzung schultern jetzt allein zivilgesellschaftliche Organisationen.
Bild: MitarbeiterInnen von Breaking the Silence bei der Arbeit
Die diplomatische Kollision zwischen dem deutschen Außenminister und
Israels Premierminister vergangene Woche erlaubte einen seltenen Einblick
in das Innenleben der israelischen Politik und in die Bewegungsgesetze der
israelischen Seele.
Die Nichtregierungsorganisationen Breaking the Silence und B’Tselem, an
denen sich der Streit entzündete, sind die eigentlichen Wächter über den
Dreiklang von demokratischen Werten, westlicher Kultur und jüdischem Erbe.
Dieser Dreiklang ist seit einigen Jahren Ziel heftiger politischer Attacken
geworden. Lange vor dem Brexit und Trump, vor Le Pen, der AfD und den
übrigen Populisten.
Bei uns in Israel lenkt schon seit einiger Zeit Ministerpräsident Benjamin
Netanjahu die politischen Geschicke. Seine Führung baut von jeher auf
beständige Konfrontation, Aufwiegelung und einer Kultur des Hasses. Sie
richtete sich mal gegen die Palästinenser, mal gegen Iraner, Europäer,
Präsident Obama oder Demokraten jeglicher Ausprägung und Herkunft.
Vor einiger Zeit, als alle bisherigen Gegner nicht mehr als Zielscheibe
taugten, wandte sich Netanjahu wieder seinem beliebtesten Objekt zu: der
israelischen Linken.
## Das jüdische Trauma wurde eine nationale Strategie
Sigmar Gabriel hat nichts falsch gemacht, und ihn trifft keinerlei Schuld –
er wurde einfach auf eine bereits fahrende Achterbahn geworfen, die mit
seiner Person nichts zu tun hat. Er kam in Ausführung seines Amtes zu
Schaden, weil Israels Demokratie immer weniger funktioniert.
Dieser Erosionsprozess – die Wandlung von einem jungen und bewundernswerten
Land zu einem Staat am Rande der Aussätzigkeit – wird im kommenden Monat
sein fünfzigjähriges Jubiläum feiern. Um das jüdische Monopol auf
Privilegien zu bewahren, waren wir gezwungen, grausam und hartherzig zu
werden.
Über die Leiden der Palästinenser wurde wirksam ein Mantel des Schweigens
geworfen, das jüdische Trauma und der Holocaust wurden eine nationale
Strategie, um all dies zu rechtfertigen. Man bemühte sich ohne Ende, jedes
Gemurmel von einer Alternative und jedes Aussprechen von Wahrheiten zu
ersticken.
## Die linke israelische Politik ist kollabiert
Eine ganze Generation wurde auf diese Weise aufgezogen, war kaum informiert
und war sich nicht darüber bewusst, dass bereits auf der anderen Seite der
Straße eine immense humanitäre Krise herrschte.
Die genannten Organisationen wurden gegründet, um das wahre Gesicht des
israelischen Besatzers und Unterdrückers ans Licht zu bringen, der das
Recht seines eigenen Landes und seiner Nachbarn bricht – und um alldem ein
Ende zu setzen. Von Beginn an hatten sie nie die Absicht, als politische
Opposition herzuhalten, sondern sie waren Menschenrechtsorganisationen, die
durchschnittliche Israelis darüber informieren wollten, was ihnen von den
führenden politischen Vertretern verschwiegen wurde.
Zu Beginn wollten sie Israel drängen, nach seinen selbst gesetzten Werten
zu handeln. Seit jener Zeit ist das linke Spektrum der israelischen Politik
kollabiert. Ministerpräsident Jitzhak Rabin wurde 1995 ermordet, das
Oslo-Abkommen scheiterte, der öffentliche Diskurs wurde immer mehr von den
Rechten bestimmt, und unsere Politiker gerieten in Panik.
## Koschere Unterdrückung?
Politische Parteien wurden schwächer, Ideen verpufften, und die Besatzung
wurde von niemandem mehr thematisiert. Zivilgesellschaftliche
Organisationen mussten dieses Vakuum füllen und standen plötzlich allein an
der Spitze des Kampfs gegen die Besatzung.
Was war mit der politischen Linken in Israel geschehen? Vielleicht hat es
sie nie gegeben …
In Israel unterscheidet sich die politische Rechte und die Linke nur durch
ein einziges Thema: der politischen Regelung des Palästinenserkonflikts.
Dabei geht es um die Haltung zu der unvermeidlichen Diskriminierung, die
das Prinzip der Gleichheit aller Bürger völlig ausgelöscht hat und blind
macht gegenüber der Unterdrückung der Freiheit und der Rechte einer anderen
Nation, der palästinensischen Nation.
Israel ist die einzige Demokratie der westlichen Welt, die das Leben einer
anderen Nation gegen deren Willen vollständig kontrolliert. Diese Kontrolle
ist schrecklich für die unter Besatzung Lebenden, und sie korrumpiert die
Besatzer. Trotz unserer geschichtlichen Erfahrung verweigern wir uns der
Erkenntnis, dass es keine ethische Besatzung geben kann, dass moralische
Diskriminierung unmöglich ist und noch niemand sagen konnte, wie koschere
Unterdrückung aussehen müsste.
## Patrioten eines humanen Israel
In vielerlei Hinsicht gleicht Israels Bewusstsein dem eines missbrauchten
Kindes, das schließlich selbst zu einem gewalttätigen Elternteil
heranwuchs. Alles, was uns in unserer langen Geschichte angetan wurde, hat
uns nicht davor bewahrt, selbst Untaten zu begehen, sondern diente zur
Rechtfertigung, Dinge anzuordnen, die verurteilenswert und inakzeptabel
sind.
Als mein Sohn, der als Kampfsoldat in Hebron gedient hat, mir sagte, dass
er einer der Zeugen für Breaking the Silence sei, drückte ich ihn fest an
mich und küsste seine traurigen und verweinten Augen. Warum?, fragte ich
ihn leise, und er antwortete: „Weil es nicht richtig ist, weil Hebron übel
und die Besatzung furchtbar ist.“
Durch seine Worte machte er mir etwas klar, das größer ist als wir beide
gemeinsam. Diese wunderbaren Organisationen sind mein Israel und mein
Stolz. Dies sind die Patrioten eines humanen Israel, die nach der Wahrheit
streben und nicht vor ihr weglaufen. Ihr Ziel ist die Beendigung der
Besatzung, sie wollen beiden Nationen und all unseren Kindern Hoffnung
machen.
Deshalb sage ich dafür Danke. Danke an Breaking the Silence und B’Tselem,
und Danke, Sigmar Gabriel, für euer, für Ihr starkes moralisches Rückgrat.
Es steht für eine gerechtere Lektion aus unserer tragischen gemeinsamen
Geschichte.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Schaaf
8 May 2017
## AUTOREN
Avraham Burg
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