# taz.de -- Debatte Flüchtlinge in Deutschland: Ökonomie als Nationalismus | |
> Auch Oxford-Professoren können sich beim Thema Flüchtlinge irren: Die | |
> Migrationsgeschichte ist eine Erfolgsgeschichte. | |
Bild: Vorbereitungskurs für die Ausbildung: Ein Syrer schraubt am Fahrgestell … | |
War es richtig, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen? Nicht nur | |
Konservative bezweifeln dies. Auch viele Linke und Grünwähler glauben | |
inzwischen, dass es unmöglich sei, die neuen Mitbürger zu integrieren. | |
Denn harte ökonomische Fakten scheinen zu belegen, dass Syrer oder Iraker | |
der modernen deutschen Arbeitswelt nicht gewachsen sind. Die Flüchtlinge | |
stammen meist aus Ländern, die fast keine Industrie hatten – während | |
Deutschland bekanntlich Exportweltmeister ist. Wie soll das zusammenpassen? | |
Also haben viele Deutsche Angst, dass sie in den nächsten Jahrzehnten eine | |
Million Flüchtlinge durchfüttern müssen, die nicht in der Lage sind, für | |
sich selbst zu sorgen. Die aktuelle Statistik scheint die Sorgen zu | |
bestätigen: Momentan haben nur etwa 17 Prozent der syrischen Flüchtlinge | |
einen Job. | |
Die Bedenkenträger können sich zudem auf prominente Wissenschaftler | |
berufen. Zu ihnen gehört der britische Migrationsforscher Alexander Betts, | |
der in Oxford lehrt. [1][In einem taz-Interview] erläuterte er kürzlich: | |
„Das Pro-Kopf-Einkommen im Vorkriegs-Syrien lag bei etwa 2.000 US-Dollar im | |
Jahr. Das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland ist aber um einiges höher, bei | |
40.000 Dollar. Der deutsche Arbeitsmarkt ist von der Exportwirtschaft | |
geprägt, von Jobs für Hochqualifizierte. Daher ist das Niveau der | |
Erwerbslosigkeit unter Flüchtlingen derzeit so hoch.“ | |
## Milchmädchenrechnung | |
Doch auch Oxford-Professoren können sich irren. Betts’ Argument klingt zwar | |
enorm einleuchtend, ist aber trotzdem eine Milchmädchenrechnung. Das | |
Pro-Kopf-Einkommen in verschiedenen Ländern sagt gar nichts darüber aus, | |
wie gebildet eine Bevölkerung ist – oder wie integrierbar Flüchtlinge sind. | |
Um einmal bei Alexander Betts selbst anzufangen: Als Oxford-Professor | |
dürfte er etwa 150.000 Pfund im Jahr verdienen; hinzu kommen Tantiemen aus | |
Büchern und diverse Nebenjobs. Das ist stattlich für einen promovierten | |
Politologen. | |
Auch in Syrien gab es promovierte Politologen. Doch sie kamen nie auf | |
150.000 Pfund im Jahr – selbst wenn sie genauso gut ausgebildet waren wie | |
Betts. Stattdessen dürften sie als Uniprofessoren etwa 5.000 Dollar | |
verdient haben. | |
Dieses Muster lässt sich für sehr viele akademische Berufe zeigen: | |
Journalisten in Deutschland sind nicht besser oder produktiver als | |
Journalisten in Syrien oder im Irak – trotzdem verdienen sie ein | |
Vielfaches. Gleiches gilt für Lehrer oder Ärzte. Ein Englischlehrer in | |
Deutschland unterrichtet genau den gleichen Stoff wie ein Englischlehrer in | |
Afghanistan. Dennoch ist der Deutsche reich und der Afghane nicht. | |
## Nicht die Ausbildung bestimmt das Einkommen | |
Bildung allein kann also nicht erklären, wieso Europäer so viel mehr | |
verdienen als ihre Kollegen in den Schwellen- oder Entwicklungsländern. | |
Zudem ist es keineswegs richtig, dass Deutschland nur Jobs für akademische | |
„Hochqualifizierte“ zu bieten hätte – auch hierzulande gibt es Busfahrer, | |
Kellner, Friseure, Putzhilfen, Verkäufer, Kindergärtner und Pflegekräfte. | |
Aber wieder gilt: Ein Busfahrer in Deutschland verdient das Vielfache eines | |
Busfahrers in Indien, obwohl beide „nur“ Bus fahren. | |
Leider ist es im Wissenschaftsbetrieb nicht üblich, dass Professoren ihre | |
Theorien auf sich selbst anwenden. Sonst wäre Betts sofort aufgefallen, | |
dass er mit seinem eigenen Ansatz nicht erklären kann, wieso er 150.000 | |
Pfund im Jahr verdient. Denn zur eigentlichen Produktivität Großbritanniens | |
trägt er nichts bei. Betts ist nicht in der Exportindustrie beschäftigt, | |
und von Technik hat er auch keine Ahnung. | |
Es ist genau anders herum, als Betts unterstellt: Nicht die Ausbildung | |
bestimmt das Einkommen, sondern die Wirtschaftsleistung eines Landes | |
entscheidet, wie viel eine Qualifikation wert ist. Ist ein Land reich, | |
verdienen auch Busfahrer, Lehrer, Ärzte, Journalisten oder | |
Politologie-Professoren deutlich mehr als ihre Kollegen in ärmeren Staaten. | |
Der Reichtum der Industrieländer hat nichts mit ihren Bürgern zu tun. Sie | |
sind nicht intelligenter als andere Menschen und oft auch nicht besser | |
ausgebildet. Stattdessen zählt allein, wie technisiert die Gesamtwirtschaft | |
ist. Wenn es sich ein Land leisten kann, viele Maschinen (und Energie) | |
einzusetzen, dann ist auch das Pro-Kopf-Einkommen hoch. | |
Was bedeutet dies nun für die Chancen, die Flüchtlinge zu integrieren? Denn | |
zumindest eine Tatsache ist ja unbestreitbar: Momentan haben erst 17 | |
Prozent der Syrer einen Arbeitsplatz. Richtig wäre wieder, die Perspektive | |
umzukehren: Erstaunlicherweise haben schon 17 Prozent eine Stelle. | |
Man stelle sich einmal vor, Deutsche müssten nach Syrien fliehen. | |
Wahrscheinlich hätten die allermeisten nach einem Jahr ebenfalls keinen | |
Arbeitsplatz, schon weil sie immer noch nicht fließend Arabisch schreiben | |
und lesen könnten. | |
## Geduld erforderlich | |
Die Migrationsgeschichte zeigt, dass Geduld erforderlich ist, damit die | |
Integration gelingt. Aber sie gelingt, wie die bundesdeutsche Geschichte | |
zeigt. Ab 1990 hat Deutschland rund 2,5 Millionen Aussiedler aufgenommen. | |
Die meisten von ihnen stammten aus der ehemaligen Sowjetunion, viele von | |
ihnen sprachen kein Deutsch und waren russisch sozialisiert. Auch war ihre | |
Ausbildung oft nicht besonders gut – und wurde nicht in einer | |
hochkapitalistischen Wirtschaft erworben. Mit diesem Profil können viele | |
Syrer mühelos mithalten. | |
Trotzdem sind die Aussiedler eine Erfolgsgeschichte. 25 Jahre später sind | |
sie selten arbeitslos, und ihre Kinder schneiden in der Schule oft so gut | |
ab, dass sie weit höhere Abschlüsse erwerben, als ihre Eltern je hatten. | |
Auch die Syrer werden sich integrieren – wenn wir ihnen Zeit geben und | |
nicht ständig mit Abschiebungen drohen. | |
Natürlich spricht nichts dagegen, gleichzeitig auch die syrischen | |
Flüchtlinge in der Türkei oder im Libanon zu unterstützen, damit sie in der | |
Nähe ihres Heimatlandes bleiben können. Aber es ist falsch zu behaupten, | |
dass die Syrer nicht zu Deutschland passen würden, weil wir eine | |
„Exportnation“ sind. Das ist Nationalismus, der sich ökonomisch tarnt. | |
7 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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