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# taz.de -- Die Wahrheit: Vitale Resignation
> Ein Lichttheaterbesuch kollidiert mit der Wirklichkeit und rückt die
> steigende Zahl von Obdachlosen ins Auge des Betrachters.
Eine Figur von Gerhard Polt, Geburtstagskind am nächsten Sonntag, sagte
einmal: „Mir ham ja heuer mal a so eine Weltreise gemacht. Aber ich sag’s
Ihnen gleich, wie es is: da fah’n ma nimmer hin.“
Mehr Zeitgenossen denn je sehen das ähnlich, reisen seltener in die Ferne
und wenn, dann lieber freiwillig. Andere sind mehr oder weniger dazu
gezwungen, irgendwo Asyl zu suchen. Ich wiederum gehe häufiger ins
Lichtspieltheater als ohnehin.
Vergangene Woche kommen wir gegen 23 Uhr aus dem Kino, wechseln bei
frostigen Temperaturen ein paar Worte über den starken Film, Aki
Kaurismäkis „Die andere Seite der Hoffnung“, in dem ein syrischer
Asylbewerber eine Hauptrolle spielt. Wir schwingen uns aufs Rad, fahren
nach Hause. Ein paar Meter weiter gegenüber, unter der Schnellspurbrücke,
kauern vier, fünf Obdachlose.
Ich wage eine vage Aussage: Vor ein paar Jahren übernachtete dort niemand.
Die Zahl der Obdachlosen ist gestiegen, oder? Zeigen sie sich mittlerweile
an Orten, an denen man früher nicht mit Obdachlosen gerechnet hat? So oder
so, es ist prima, dass in der City noch öffentliche Räume existieren; dass
nicht überall private Polizisten ein Hausrecht ausüben. Marina, mit der ich
unterwegs bin, meint, vielleicht gebe es nicht mehr Obdachlose als früher,
sondern sie zapften einfach verstärkt die knappe Ressource Aufmerksamkeit
an.
In welche Richtung sich jetzt diese Geschichte abzeichnet, ist schwer zu
entscheiden. Man könnte sich über den märchenhaften Kaurismäki-Film des
Widerstands mit einem Obdachlosen austauschen. Oder man nimmt sich vor,
gleich morgen den Augenschein abzugleichen mit der Statistik. Amtliche
Zahlen fehlen jedoch, Wohnungslosigkeit wird in Deutschland statistisch
nicht erfasst. Mietpreise schon, und die wachsen bekanntlich.
Oder wir betrachten den Trend zu Mikrowohnungen. Bei einer Fotostrecke auf
spiegel.de ist etwa ein „Cubity“-Container in der Größe von 7,2
Quadratmetern zu sehen, in dem Frankfurter Studenten wohnen, für 250 Euro
im Monat warm. Apropos Weltreise: Auf einem Foto sitzt ein alter Mann in
Shanghai auf einem Sessel, er teilt zehn Quadratmeter mit seinem Sohn. Ein
weiterer Klick: Eine Frau in einem Vorort von Seoul. „Rund zwei
Quadratmeter Wohnfläche stünden ihr zur Verfügung, schätzt der Fotograf.“
Da wir unschlüssig schwanken, welchen Blickwinkel wir ausleuchten, widmen
wir den Schluss lieber noch mal dem baldigen Jubilar. Keine Überraschung,
dass die Auswahl allein aus den favorisierten Zitaten bereits schwerfällt.
Für eine Passage aus dem Dreiakter „Willi – ein Verlierer“, veröffentli…
auf einem Album der Toten Hosen, fehlt der Platz.
Nicht nur deshalb, sondern en bloc taugt diese Wendung: „Ich hab schon
immer gesagt, wenn schon resignieren, dann vital: Man geht ins Wirtshaus,
trinkt ein gutes Bier, und isst ein gutes Schnitzel. Des ist ein Zeichen
der Resignation.“ Lasst uns am Sonntag auf Polt anstoßen.
3 May 2017
## AUTOREN
Dietrich zur Nedden
## TAGS
Obdachlosigkeit
Unesco-Kulturerbe
Erinnerung
Unisex
Fake News
Weimar
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Martin Luther
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