| # taz.de -- Die Wahrheit: Schleichend Schluss mit Schlucken | |
| > Wer die „Sprechflasche“ hält, darf erzählen, warum er hier ist: in einem | |
| > Kurs für „Kontrolliertes Trinken“. Mit Risiken, Misserfolgen und | |
| > Fortschritten. | |
| Bis vor Kurzem gab es für Alkoholismus offiziell nur eine Lösung: aufhören, | |
| und zwar komplett und für immer. Doch das neue Zauberwort heißt | |
| „kontrolliert trinken“. | |
| Im von zehntausend Konsumeinheiten zum groben Sieb perforierten Gehirn des | |
| Betroffenen bleibt von diesem Wortpaar immerhin noch „trinken“ hängen. Das | |
| klingt doch gleich viel besser als die böse Nulldiät: Saufend trocken | |
| werden, oder besser gesagt, halbtrocken – das ist doch wunderbar! | |
| Erzprotestanten, Guttempler, Langweiler, Miesepeter, Betschwestern, | |
| Gesundheitsapostel, Sauertöpfe, Panikmacher, Krümelkacker, Askese-Nazis; | |
| all diese zutiefst verhassten Protagonisten der Nüchternheit können uns | |
| gepflegt am Hobel blasen. | |
| Das war auch meine Haltung. Nun sitze ich bei Frau Dr. alk. Dipl.-Psych. | |
| Verena Parder-Wedde in Berlin-Rummelsburg, neben mir noch vier weitere | |
| Wracks der Altersklasse 50 bis 69. Wo bin ich hier bloß gelandet? Die durch | |
| die großen Fenster hereinfallende Spätnachmittagssonne erreicht nicht ganz | |
| unseren kleinen Stuhlkreis auf dem hellen Holzlaminat. Die Kursleiterin | |
| gibt eine selbstgehäkelte Schnapspulle zur Vorstellungsrunde herum. Wer die | |
| „Sprechflasche“ hält, darf erzählen, warum er hier ist. | |
| ## Alkohol unter Anleitung | |
| Die fast weißhaarige Hilde (64) hat mit dem Trinken begonnen, nachdem ihr | |
| Mann gestorben war. Irgendwer musste dessen gigantischen Getränkevorrat ja | |
| vertilgen, wäre doch schade drum gewesen. Mein direkter Nachbar Lothar (68) | |
| hatte Pech im Lotto. Barbara wiederum hat noch nie getrunken, weil sie | |
| Alkohol nicht ausstehen kann. Doch das Versprechen „kontrolliertes Trinken“ | |
| hat sie neugierig gemacht. Vielleicht, so die aparte Mittfünfzigerin, könne | |
| sie hier unter Anleitung den Alkoholgenuss erlernen, um auf Feiern nicht | |
| länger Außenseiterin zu sein. Während die anderen labern, lege ich mir | |
| meine Worte zurecht. | |
| Es war so, der junge Arzt war neu, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. | |
| Und egal, mit welchem meiner ganzen Prekariatsärzte ich die letzten dreißig | |
| Jahre gesprochen hatte: Noch nicht mal beim Rundum-Gesundheitscheck wurde | |
| jemals auch nur eine Sekunde lang verquaste Eso-Kacke thematisiert, wie | |
| meine Lebensumstände, meine Stimmung, meine Ernährung, mein Berufs- oder | |
| Sexualleben und mein Suchtverhalten. Die Blutwerte waren ja okay. Dieser | |
| übergriffige Quacksalber aber blickte mich nur einmal kurz an und sagte: | |
| „Sie müssen aufhören zu rauchen!“ Ohne meine Lunge abzuhorchen, mein Atem | |
| rasselte nicht und ich hatte ihm auch keinen blutigen Schleim auf den | |
| Schreibtisch gehustet. | |
| Ich reagierte perplex: Wie er denn darauf käme? Er erklärte, rauchen wäre | |
| ungesund. Ach so. Das hatte ich zwar auch schon mal gehört, aber nie ernst | |
| genommen. Ich hatte das Geunke stets darauf zurückgeführt, dass die | |
| Tabakindustrie um ihre clevere Geschäftsidee beneidet wurde. | |
| „In Ihrem Alter“, sagte er mit einem zweiten kurzen Blick, der mir wehtat, | |
| „steckt man nicht mehr alles so weg wie eventuell gewohnt.“ Er erwähnte | |
| auch noch irgendwie Cholesterin und Ernährung und andern Scheiß, ich wollte | |
| daher schon wieder abschlaffen, als das Wort „Alkohol“ fiel. Begleitet von | |
| einem dritten kurzen, doch dafür umso intensiveren Blick. Ich schwitzte. In | |
| dem Blick sah ich mein Gesicht gespiegelt, das heute morgen so aussah wie | |
| an zu vielen anderen Morgen. Er gab mir einen Informationszettel. | |
| Zu Hause entdeckte ich auf dem Zettel das Angebot „KT – Kontrolliert | |
| Trinken, mehr Genuss, mehr Freiheit, mehr Sicherheit“. Mit dem Slogan „Es | |
| gibt mehr als Abstinenz“ wirbt der von den Krankenkassen bezuschusste | |
| Gesundheitskurs um Trunkenbolde diesseits jeder Hoffnung, die nach | |
| Schleichwegen um das leidige Aufhören herum suchen. Also um die meisten. Um | |
| mich. Noch am selben Tag buchte ich online den Kurs bei Frau Dr. | |
| Parder-Wedde. | |
| „Das ist eine großartige Geschichte.“ Parder-Wedde wendet sich nun an die | |
| anderen Teilnehmer: „Finden Sie nicht auch?“ Allesamt nicken sie wie | |
| ferngesteuert. Solange kein Alkohol im Spiel ist, will so gar keine rechte | |
| Atmosphäre aufkommen. | |
| Und noch schlimmer wird es, als sie lächelnd zur Disposition stellt: „Was | |
| könnte ich anstelle des Trinkens tun?“ Hilfloses Schulterzucken in der | |
| Runde, Nasenbohren. Wie „anstelle des Trinkens“? Es hieß doch | |
| „kontrolliert“ und nicht „anstelle“. Und für die Kontrolle hat man | |
| schließlich dieses dämlich grinsende Honigkuchenpferd da vorn bezahlt. Die | |
| blöde Sau. Die einen sind kurz vorm Ausrasten, die anderen kurz vorm | |
| Einschlafen. Wie Alkis halt so sind. | |
| ## Erarbeiten von Trinkzielen | |
| Doch zum Glück erfolgt ein rascher Themenwechsel, hin zum „gemeinsamen | |
| Erarbeiten von Wochentrinkzielen“. Sie fragt in die Runde: „Was könnten | |
| denn das für Ziele sein?“ Heißa, nun sprudeln aber die Vorschläge. Wer | |
| gerade noch wie leblos in seinem Stuhl hing, schnipst nun eifrig mit den | |
| Fingern, um sich einzubringen: besoffen sein, Flasche leer, Kasten blanko, | |
| hartes Erbrechen, Erarbeitung eines zweistelligen Europfandbetrags bei der | |
| Leergutannahme. Die Diplompsychologin ist begeistert von der regen | |
| Mitarbeit. | |
| Und das Schöne ist: Wer das Pensum nicht schafft, muss dennoch nicht | |
| nachtrinken. Denn im Gegensatz zum Aufhören heißt das KT ein Scheitern | |
| ausdrücklich willkommen: „Eigene Ziele formulieren und … umsetzen, mit den | |
| Konsequenzen, Risiken, Misserfolgen und Fortschritten gelassen umgehen …“, | |
| steht bereits in der Kursbeschreibung. Wenn der Kasten nicht geschafft | |
| wird, versucht man es eben in der nächsten Woche aufs Neue, oder erarbeitet | |
| sich ein anderes Ziel, das für den Anfang vielleicht realistischer gesteckt | |
| erscheint. Das kann ein schwerer Kater sein oder eine nachts vom Sturz im | |
| Schlafzimmer aufgeschlagene Stirn – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. | |
| Ein elementarer Teil der Methode liegt überdies darin, dass der Süchtige | |
| lernt, sein vom Alkoholmissbrauch quasi ausgeleiertes Belohnungszentrum zu | |
| stimulieren. Laut Leitfaden „gehören dazu effektive Tipps und Übungen, um | |
| in gute Stimmung zu kommen mit körpereigenen Drogen“. Parder-Wedde bittet | |
| um Beispiele. Die meisten nennen den Restalkohol vom Vorabend. Zusammen mit | |
| dem effektiven Tipp: Je gründlicher man vorgetankt hat, desto besser die | |
| Stimmung. „Wie könnte ich mir täglich eine Freude machen?“, fasst die | |
| Chefin die Aufgabenstellung zusammen, und unsere Antwort ertönt stolz im | |
| Chor: „Kontrolliert trinken!“ | |
| ## Lust ohne Ballast | |
| Von draußen dringt Lärm durch das offene Fenster herein. Auf einer Bank im | |
| Hof lassen Trinker krakeelend Pappschachteln mit Rotwein kreisen, Hunde | |
| bellen. Das muss der postpräventive Gesundheitskurs „Unkontrolliert | |
| Trinken“ (UkT) sein. Fast hätte ich ja den belegt, denn nicht zuletzt ist | |
| der umsonst, während wir nach der Teilerstattung noch immer dreihundert | |
| Ocken pro Nase latzen müssen. | |
| Ein wenig neidisch blicke ich hinunter zu den fröhlich grölenden | |
| Teilnehmern. Sie wirken so unbeschwert, so frei, so anarchisch. Ich | |
| verspüre nicht übel Lust, mir nach dem Ende der heutigen Sitzung den dort | |
| entstandenen Ballast in geselliger Runde von der Seele zu spülen. | |
| Vielleicht frage ich Barbara, ob sie mitkommt. | |
| 28 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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