| # taz.de -- Biografie des Rebellen Jack Bilbo: Gangster und Ehrenbürger | |
| > Jack Bilbo war Künstler, Abenteurer, Antifaschist. Sein Werk wird nun mit | |
| > Bildern von Daniel Richter in Berlin präsentiert. | |
| Bild: Mit einer gefälschten Lebensgeschichte als Leibwächter von Al Capone ma… | |
| Vor fünfzig Jahren wurde auf dem Jüdischen Friedhof an der Heerstraße in | |
| Berlin die Urne mit der Asche Jack Bilbos bestattet. Der 22. Dezember 1967 | |
| war ein kalter und windiger Tag, doch ungeachtet dessen erwies eine | |
| vielköpfige Trauergesellschaft Bilbo die letzte Ehre. Auch der | |
| Bezirksbürgermeister von Berlin-Schöneberg, Dr. Grunner, war anwesend. Er | |
| hielt eine Rede auf den Verstorbenen und rief ihm ein Farewell hinterher. | |
| Jack Bilbo war in der Viermächtestadt eine allbekannte Erscheinung gewesen. | |
| Und nicht nur in Berlin. Seit Anfang der 1930er Jahre war sein Name | |
| regelmäßig durch die deutsche, spanische, französische, niederländische und | |
| britische Presse gegangen. Anlässlich seines Todes – er war am 19. Dezember | |
| nach langer Krankheit gestorben – gab es kaum eine Zeitung, die seiner | |
| nicht mit einem Nachruf gedachte. Sie erinnerten an den Maler und Autor, an | |
| den Bildhauer und Galeristen, an den Antifaschisten und Spanienkämpfer, an | |
| den Gastronomen und Kapitän, sowie, last, but not least, an den Gangster | |
| und Ehrenbürger von Berlin-Schöneberg. | |
| Henry Miller, der 1961 während eines Berlinaufenthalts häufig in Käpt’n | |
| Bilbos Hafenspelunke am Kurfürstendamm zu Gast war und für die | |
| Autobiografie über Jack Bilbo, „Rebell aus Leidenschaft“, das Vorwort | |
| verfasste, schrieb über ihn: „Des öfteren, wenn ich nachts nicht schlafen | |
| kann, stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn Jack Männer wie Jack | |
| London, Blaise Cendrars, Liam O’Flaherty – oder Maxim Gorki zu Freunden und | |
| Kumpanen gehabt hätte. […] Diese ungestümen, draufgängerischen | |
| Individualisten haben etwas an sich, was sie bei Männern und Frauen in der | |
| ganzen Welt so beliebt macht. Sind sie dazu noch Schriftsteller und | |
| Kunstmaler wie Jack Bilbo, so nisten sie sich in unsere Herzen für immer | |
| ein. Wir lieben sie, weil sie Einzelgänger sind, ‚Uitlanders‘, Vaganten, | |
| Außenseiter der Gesellschaft.“ | |
| ## Die Welt hatte Risse | |
| Ein „ungestümer, draufgängerischer Individualist“ war Jack Bilbo allemal. | |
| Könnte man sein Leben wie auf einer Wetterkarte verzeichnen, wechselten | |
| sich Hochs und Tiefs ständig ab. Dabei schien ihm, als er 1907 zur Welt | |
| kam, ein saturiertes Dasein gesichert zu sein. Sein Vater, Bruno Baruch, | |
| ein reicher Geschäftsmann, und seine Mutter, Margarete Frederica Beatrice | |
| Baruch, geb. Tuchmann Turner, eine wohlhabende Engländerin, sahen den Sohn | |
| als Stammhalter. Miss Wheeler, die englische Nanny, die er herzinnigst | |
| liebte, bemühte sich um seine Erziehung. Köchin, Dienstboten, Diener, ein | |
| eigenes Zimmer, Soireen und Feste – das gehörte zur Welt des kleinen Herrn | |
| Baruch wie der Flair des Kurfürstendamms. Doch diese Welt hatte Risse. | |
| Denn Bruno Baruch, Frauenheld und Bonvivant, hielt sich eine Geliebte, die | |
| Sängerin Rosa Felsegg, weshalb sich seine Frau von ihm zurückzog und | |
| schließlich zu Morphium griff, das Ärzte damals als Arznei gegen | |
| Depressionen und Schwermut empfahlen. Zugleich nahmen die Spannungen | |
| zwischen den europäischen Großmächten zu, bis sie sich 1914 im Ersten | |
| Weltkrieg entluden. | |
| Obwohl Margarete seit der Heirat mit Bruno Baruch preußische Bürgerin war, | |
| wurde nach Ausbruch des Krieges ihr Leben in Berlin unerträglich, sodass | |
| sie 1915 in die Niederlande emigrierte, zusammen mit ihrem Sohn und der | |
| Nanny. 1919, bei der Rückkehr, waren ihre Nerven zerrüttet, sie war | |
| hochgradig morphiumsüchtig. Die Ehe wurde geschieden und Margarete Baruch | |
| in der Heil- und Pflegeanstalt Herzberge untergebracht. | |
| Die Emigration warf auch den Sohn aus der Bahn. Hatte er sich in Berlin im | |
| Mittelpunkt der Familie gefühlt, so glaubte er sich in den Niederlanden | |
| unzugehörig, im Stich gelassen, verraten. Miss Wheeler kehrte nach England | |
| zurück, während seine Mutter jeglichen Einfluss auf ihn verlor. Bald trieb | |
| er sich mit Straßenjungen herum, wurde beim Stehlen ertappt, und als er | |
| endlich heim nach Berlin kam, sorgte Rosa Felsegg dafür, dass ihn sein | |
| Vater in einem Internat unterbrachte. | |
| ## Nach New York abgeschoben | |
| Zoomt man die 1920er Jahre heran, sieht man Hugo Cyrill Kulp – so hatte ihn | |
| Bruno Baruch nach seinem Vater und dessen Brüdern genannt – als einen | |
| jungen Mann, der weder feste Ziele noch einen Lebensmittelpunkt hatte. Aus | |
| dem Internat ausgebüxt, unerwünscht im Haus seines Vaters und nach New York | |
| abgeschoben, verliert er den Boden unter den Füßen, kommt mit dem Gesetz in | |
| Konflikt, landet auf dem harten Pflaster Manhattans, lebt von der Hand in | |
| den Mund, als Dekorateur für Damenhüte, als Tellerwäscher, als | |
| Briefsortierer, bis er, zurückgeholt nach Berlin, als Filmassistent, als | |
| Propagandist für eine Schönheitstinktur (Amor Skin rief aber eitrige Pickel | |
| hervor), als Taxichauffeur und manch anderes mehr seine Brötchen verdiente. | |
| 1931 landete er jedoch einen Coup, mit dem er alle Fährnisse überwinden | |
| konnte. | |
| Hugo Baruch, der Hugo Cyrill Kulps Großvater war, zählte zu jenen | |
| Gründergestalten, denen Berlin sein Gepräge verdankt. Mit 21 Jahren von | |
| Breslau nach Köln abgewandert, eröffnete er einen Kostümverleih, gründete | |
| ein kleines Theater, stattete historische Umzüge aus und rief schließlich | |
| die Theaterausstattungsfirma Hugo Baruch ins Leben. 1887 verlegte er deren | |
| Sitz nach Berlin, wo die Firma schnell expandierte, zur größten der Stadt, | |
| zur größten des Reichs, zur größten Europas. | |
| Auf einer gut erhaltenen Fotografie vermittelt Baruch einen gemütlichen | |
| Eindruck. Doch in Wirklichkeit war er ein so leidenschaftlicher Spieler wie | |
| energischer, ideenreicher Geschäftsmann. Solche Wesenszüge eigneten auch | |
| seinem Enkel. 1931, da ist Hugo Cyrill Kulp 24, setzt er sie um in ein | |
| literarisches Werk, eine zu großen Teilen erfundene Lebensgeschichte, | |
| derzufolge er Al Capones Leibwächter war und deren erste Folge in der | |
| Münchner Illustrierten Presse erschien, auf den Tag genau am 2. Oktober, | |
| als in Chicago der Prozess gegen Al Capone begann. | |
| Ein Berliner Junge aus bester Familie als amerikanischer Gangster! Der | |
| „Insiderbericht“ machte Furore. Er wurde sogleich als Buch publiziert und | |
| war alsbald in vielen Sprachen zu lesen. Ein Befreiungsschlag, der das | |
| Konto anschwellen ließ (70.000 RM!) und aus Hugo Cyrill Kulp Baruch einen | |
| anderen formte, den „Gangster“ und Autor Jack Bilbo. | |
| ## Im Visier der Nazis | |
| Woher dieser Name? Den Vornamen, so schrieb er dreißig Jahre danach, habe | |
| er von seinem Lieblingsautor Jack London entliehen. „Bilbo“ aber, das | |
| baskische Wort für „Bilbao“, hatte er im Hafen von Rotterdam an der | |
| Bordwand jenes Schiffes gelesen, mit dem einst seine Nanny in der Nordsee | |
| verschwand. Ein Name, aus der Verzweiflung geboren, verlassen worden zu | |
| sein, ein Spielball des Schicksals, ein Verdammter, ausgeliefert an | |
| historische politische Mächte. | |
| Von dem nationalsozialistischen Kampfblatt Der Angriff als jüdisch | |
| plutokratischer Gangster verschrien, wurde Bilbo Ende 1932 von Nazischergen | |
| zusammengeschlagen und mit inneren Verletzungen in die Charité | |
| eingeliefert. Es gelang ihm zwar, zu fliehen, als Hitler die Macht | |
| übernahm, nach Frankreich und weiter nach Spanien, wo er die Engländerin | |
| Billie Gamble für sich gewann – er eröffnete eine Bar, baute ein Haus, und | |
| Billie schenkte ihm eine Tochter –, doch das friedliche Leben währte nicht | |
| lange. Im Juli 1936 brach der Bürgerkrieg aus. | |
| Nach den blutigen Kämpfen um Barcelona, bei denen er aufseiten der | |
| Republikaner sein Leben riskierte, folgte er Billie nach London. Aber | |
| zwischen ihnen wurde es nicht mehr wie früher: die Liebe erlosch und sie | |
| trennten sich bald. Er steckte auch bald bis zum Hals in Schulden, bezog | |
| Unterstützung von der Jüdischen Wohlfahrt (Association of Jewish Refugees) | |
| und hauste in einem Kellerzimmer in Chelsea. Ohne Perspektive, | |
| niedergeschlagen, so erklärte er später, hungerte ihn gewaltig nach Farben, | |
| und so kaufte er bei Green & Stone in der King’s Road Malzubehör und malte | |
| sein erstes Gemälde: „Red Girl (Mädchen in Rot)“, ein Rückenakt in | |
| dämmerndem Rot. Drei Monate später, im Juni 1939, hatte er 36 Bilder gemalt | |
| und zog von Galerie zu Galerie – vergebens, in allen wies man ihn ab, außer | |
| in der Arlington Gallery von Lucy McDonald, die ihm, ohne einen Blick auf | |
| die Bilder zu werfen, eine Ausstellung zusagte und für den 11. Juli die | |
| Vernissage anberaumte. | |
| Ein Luftschloss, ein Clown, eine einsame Insel – während des Malmarathons | |
| hatte er Motive auf die Leinwand gebracht, die ihm zentral wichtig bleiben | |
| sollten. Andere, Pharaos Tochter, Kleopatra oder die Goldene Lu, gingen auf | |
| Varieté und Filme zurück. Es gab einen Panda, eine Winterlandschaft, es gab | |
| Merry, die Tochter, über ein Schulheft gebeugt – naturalistische Bilder. | |
| Aufsehen erregte ein Hitler-Gemälde. Jack Bilbo hatte den Despoten in der | |
| Tiefe des Meeres versenkt und das Bild in einen mit Wasser gefüllten | |
| Rahmen aus Plexiglasröhren gesetzt, in dem Goldfische schwammen. Sie | |
| sollten die Missgeburt der deutschen Geschichte vertilgen. | |
| ## Der „malende Gangster“ | |
| Schon eine Stunde vor der Eröffnung wartete in der Bond Street eine Traube | |
| von Menschen, um den von der Presse angekündigten „malenden Gangster“ und | |
| seine Bilder zu sehen. Zuerst Empörung der Kunstkenner – da male ja Picasso | |
| noch besser! Dann die Ladys vom Tierschutzverein – die armen Fische bekämen | |
| keine Luft in den Röhren. Schließlich stürmten Faschisten herein: „Der Jude | |
| beleidigt ein befreundetes Staatsoberhaupt.“ Die Presse aber überschlug | |
| sich vor Lob: „Jack Bilbo is one of the most forceful and impressive | |
| painters of this century“ (New York Times). Dennoch: Bis zum letzten Tag | |
| kaufte keiner ein Bild. Dann aber schlug ein schottischer Holzhändler zu. | |
| Er kaufte 32 Bilder auf einmal. Das brachte Jack Bilbo 3.200 Pfund ein. | |
| Auch sahen sich nun die renommierten Galerien Zwemmer und Reid & Lefevre | |
| zum Ausstellen seiner Gemälde ermutigt. | |
| Die Malerei erwies sich als Lebenselixier für Jack Bilbo. Schon der Geruch | |
| von Farben und Terpentin versetzte ihn in einen rauschhaften Zustand. Vor | |
| der Leinwand öffneten sich ihm andere Räume, schaurige und fantastische, | |
| obszöne und maliziöse, traurige und melancholische. Mit Bildern setzte er | |
| sich auch gegen Krieg, Not und Elend zur Wehr. Als man ihn nach der | |
| Bombardierung Rotterdams 1940 im Mai als Enemy Alien auf der Isle of Man | |
| internierte, erbat er sich von der YMCA Pinsel und Farben, bannte die | |
| Lagertristesse auf Sperrholz und Pappe und stellte sie aus – in Bilbo’s | |
| cabin, seiner Galerie, seiner Bar, in der es neben Kräutertee auch | |
| eingeschmuggelten Alkohol gab. Und als er schließlich nach London | |
| zurückkam, als freier Mann, 1941 im Mai, eröffnete er die Modern Art | |
| Gallery zuerst in der Baker Street, dann in der Charles II. Street, dort, | |
| wo sich heute der Pub London Beer House befindet. | |
| Kaum war er aus dem Internierungslager entlassen, brachten ihm Samson | |
| Schames und Jankel Adler ihre Bilder. Alexander Bauernfreund und Hugo | |
| Dachinger folgten. Bald auch Hein Heckroth. Zudem britische Maler, da wegen | |
| der Luftangriffe eine Galerie nach der andern schloss, und Malerinnen | |
| natürlich, Joan Atkins, Margaret Marks, Rita Kernn-Larsen und andere mehr. | |
| Die Zwemmer Gallery machte ebenfalls dicht, woraufhin Anton Zwemmer der | |
| Modern Art Gallery Gemälde zum Kommissionsverkauf überließ: Arbeiten von | |
| Georges Braque und Maurice Utrillo, von Pablo Picasso, Max Ernst, Amedeo | |
| Modigliani, auch Bilder impressionistischer Maler wie Claude Monet und | |
| Camille Pissarro. Neue Wege der Kunst, Junge Surrealisten, | |
| Konstruktivisten, Primitive aus England, Malende Frauen – solche | |
| Ausstellungen schlugen Breschen für die Moderne in England. Und die | |
| Einzelausstellung von Kurt Schwitters natürlich, 1944 im Dezember, zum | |
| Geheul von Luftschutzsirenen, Schwitters’ einzige in England. | |
| ## Es wird dunkel | |
| Jack Bilbos Schaffensdrang stand in jenen Jahren reziprok zum Geschehen. | |
| Die Bomben, die Feuerstürme, die Toten, die Nachrichten von den | |
| Deportationen der Juden und den Vernichtungslagern in Polen ließen ihn am | |
| Sinn künstlerischer Arbeiten zweifeln. Es wurde dunkel um ihn. Er sackte in | |
| sich zusammen, doch von einem Tag auf den andern begann er wieder zu malen. | |
| Hoffnungslose, düstere Bilder, die aber nach und nach optimistischer | |
| wurden. Was veranlasste sie? Elisabeth Anna, Owo genannt, Sekretärin an der | |
| schwedischen Botschaft, die er noch vor Kriegsende heiraten sollte. | |
| Jack Bilbos Leben war von Mythen geprägt. Ithaka, die Insel, auf der | |
| Odysseus beheimatet war, hatte er schon als Kind vor Augen gehabt. Nun | |
| malte er sie, zerklüftet und wild, doch mit Owo, die ihn erwartet. Bei | |
| Weybridge entdeckten sie diesen Ort, ein heruntergekommenes Haus mit | |
| verwildertem Garten in einer Bucht an der Themse. Sie erwarben den Landsitz | |
| – „Bilbo Bay“ taufte er ihn –, machten ihn wieder bewohnbar und verlegt… | |
| ihr Leben dorthin. Er gab Kunstbücher heraus, verfasste ein | |
| autobiografisches, reich bebildertes Werk mit dem Titel „Jack Bilbo“, | |
| zeichnete, malte und gestaltete im Garten die Skulpturen „Life und | |
| Devotion“, Riesinnen, die mit ihren gewaltigen Brüsten und Hintern | |
| archaischen Gottheiten glichen. Doch der Traum fand ein unschönes Ende: Die | |
| englischen Behörden verweigerten ihm die Einbürgerung. | |
| ## Käpt’n Bilbo am Steuerrad | |
| Verletzt und enttäuscht, beschloss er, nicht länger in England zu bleiben. | |
| Er erwarb günstig „De Brave Hendrik“, ein Wattschiff, und am 30. Juli 1949 | |
| sah man ihn, Pfeife im Mund, auf dem Kopf eine Mütze mit Ankeremblem, als | |
| Käpt’n Bilbo am Steuerrad stehen. Owo weinte indes Garten und Haus | |
| hinterher. London, Ramsgate, Calais – auf dem Ärmelkanal brachte ein Orkan | |
| „De Brave Hendrik“ beinahe zum Kentern –, auf Kanälen und Flüssen über | |
| Paris nach Marseille. Sie schipperten weiter, lebten von dem wenigen Geld, | |
| das Bilbo mit dem Ausmalen von Lokalen verdiente, bis er 1953 in | |
| Sanary-sur-Mer ein Restaurant eröffnete, Captaine Bilbo, vier Tische, nicht | |
| mehr, in dem Owo Fischer und Touristen bekochte. | |
| Bruno Baruch, Jack Bilbos Vater, durch die Kulturpolitik von Goebbels | |
| ruiniert, hatte sich 1935 das Leben genommen. Margarete Frederica Beatrice | |
| Baruch, Jack Bilbos Mutter, wurde 1940, als die „Aktion T4“ genannte | |
| Ermordung von Behinderten und Psychiatriepatienten begann, aus der Heil- | |
| und Pflegeanstalt Herzberge ins Zuchthaus Brandenburg überführt und | |
| vergast. Eine von Jack Bilbos Tanten und zwei seiner Cousinen brachten sich | |
| um, als sie deportiert werden sollten. Heinz-Eugen und Henri Baruch, die | |
| Söhne von Jack Bilbos Großonkel Eugen, Erna Elizabeth, Henris dänische | |
| Frau, sowie Anna-Elise, Henris und Heinz-Eugens Mutter und deren Schwester | |
| flohen nach Frankreich, wo sie die Schoah und den Krieg überlebten. | |
| All seine anderen Verwandten – und die Familie Baruch war groß – wurden | |
| deportiert, verhungerten, wurden erschossen, erschlagen, oder vergast. | |
| Bilbo selbst litt an den Verletzungen, die er 1932 durch die Nazischergen | |
| erlitten hatte. 1956 brachen sie wieder auf, es stand auf Messers Schneide | |
| mit ihm, doch er erholte sich. Als er aus dem Krankenhaus kam, wollte Bilbo | |
| zurück nach Berlin, und so ließen sie – Owo und er – Sanary-sur-Mer hinter | |
| sich. | |
| Nach langem Kampf mit den Behörden erhielt Käpt’n Bilbo, wie ihn die Presse | |
| jetzt nannte, als Wiedergutmachung für das seinen Eltern geraubte Vermögen | |
| den relativ kleinen Betrag von 10.000 Mark zugesprochen. Womit er aber | |
| immerhin seine Tanzbar einrichten konnte: Käpt’n Bilbos Hafenspelunke. Sie | |
| wurde schnell zum Magneten. Hier hing ein Hai von der Decke, hingen Gemälde | |
| von Bilbo, hier konnte man mit „Twistmäusen“ tanzen, hier trat Malerkollege | |
| Schröder-Sonnenstern auf, und selbst Heinz Otterson, der cholerische | |
| Kellner, war ein vielversprechender Künstler. | |
| ## Ehrenbürger von Schöneberg | |
| 1962 ist der malende Käpt’n im Kino zu sehen, in der | |
| „Dreigroschenoper“-Verfilmung von Wolfgang Staudte, neben Gerd Fröbe und | |
| Lino Ventura, mit Spelunken-Jenny Hildegard Knef auf dem Schoß. Rudolf | |
| Springer, der auf Jack Bilbo aufmerksam wurde, als dieser 1950 in Paris | |
| ankerte, trägt ihm eine Ausstellung an. So sind 1963 Bilder Jack Bilbos in | |
| der Galerie Springer am Kurfürstendamm in Berlin ausgestellt und natürlich | |
| zu kaufen. Im selben Jahr bringt auch der Erdmann Verlag die abenteuerliche | |
| Autobiografie „Rebell aus Leidenschaft“ auf den Markt. Ein voller Erfolg. | |
| Die Presse reißt sich um Käpt’n Bilbo. Bilbo im Rundfunk, Bilbo im | |
| Fernsehen. Dabei neigt sich sein Dasein dem Ende zu. | |
| 1967, im letzten Jahr seines Lebens, erklärt ihn Bezirksbürgermeister Dr. | |
| Grunner zum Ehrenbürger von Berlin-Schöneberg, und in der Galerie Jule | |
| Hammer, im Europa-Center am Breitscheidplatz, dort, wo sich früher das | |
| Romanische Café befand, in dem Bilbo gern verkehrte, findet nochmals eine | |
| Ausstellung statt – eine große, eine gut besuchte und die letzte von ihm. | |
| Nach dem Tod von Jack Bilbo schrieb Merry Kerr Woodeson, Jack Bilbos | |
| Tochter, eine Dissertation mit dem Titel „Jack Bilbo and the Modern Art | |
| Gallery. London 1941–1946“ und realisierte 1983 eine Einzelschau in der Ben | |
| Uri Gallery in London. 1988 kuratierte dann Jane England eine Retrospektive | |
| in ihrer Galerie England & Co in London und publizierte Teile der | |
| Dissertation von Merry Kerr Woodeson im Begleitbuch zur Ausstellung. Das | |
| British Museum in London nahm diese Schau zum Anlass, um | |
| Originalzeichnungen Bilbos aus dessen Buch „Out of My Mind“ zu erwerben. | |
| Durch die Bilbo-Ausstellungen in den 80er Jahren und die bis heute | |
| kontinuierliche Präsentation seines Werks durch die Galerie England & Co | |
| gelangte dieses erneut in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. | |
| Jane England etwa zeigte 2014 neben Arbeiten Bilbos auch die von Ben | |
| Woodeson, dem Enkel Jack Bilbos. Und Daniel Richter, der schon 2007 in der | |
| Kunsthalle Hamburg Bilder Jack Bilbos zwischen seine eigenen Gemälde | |
| platzierte, wünscht, was schon Henry Miller vor einem halben Jahrhundert | |
| aussprach: 21 Salutschüsse für den alten Kapitän! | |
| 23 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ludwig Lugmeier | |
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