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# taz.de -- Bücher über Architektur: Bevor Neutra nach Kalifornien ging
> In „Richard Neutra in Berlin“ geht es um den Bau von vier Zehlendorfer
> Häusern im Kontext moderner Stadtentwicklung der 20er-Jahre.
Bild: Historische Abbildung aus dem besprochenen Band „Richard Neutra in Berl…
Der internationale Durchbruch gelang dem 1892 in Wien geborenen Architekten
und Adolf Loos’ Schüler Richard Neutra erst nach seiner Übersiedlung 1923
in die USA. Aus der Tradition der klassischen Moderne entwickelte er in
Kalifornien harmonisch in die Natur eingefügte Villen mit großzügigen
Fensterfronten wie das 1946 in der Wüste von Palm Springs entstandene
legendäre Kaufmann-Haus.
Weniger bekannt hingegen sind Neutras kurze Episode im Stadtbauamt von
Luckenwalde im Spreewald und seine anschließende Mitarbeit im Berliner
Architekturbüro von Ernst Mendelsohn ab 1921 bis zu seiner Auswanderung
1923.
Der reich bebilderte Band „Richard Neutra in Berlin. Die Geschichte der
Zehlendorfer Häuser“ verhandelt diese frühe Schaffensphase des späteren
Stararchitekten ausführlich. Er erzählt von der Entstehung der vier
Neutra-Häuser 1924 als Auftakt zu einem groß angelegten
Stadtentwicklungsprojekt des „Neuen Bauens“.
So entstand im Anschluss und in unmittelbarer Nähe der sachlich modernen
Einfamilienhäuser zwischen 1926 bis 1931 die von den Architekten Bruno
Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg in Zeiten großer Wohnungsnot
als Typenbau konzipierte Großsiedlung „Onkel Toms Hütte“ mit 1.000
Wohnungen und 800 Reihenhäusern. 1929 wurde die Siedlung schließlich an den
öffentlichen Nahverkehr angebunden und die gleichnamige U-Bahn-Station
eröffnet – benannt nach einem benachbarten Ausflugslokal im Grunewald.
## Zehlendorfer Dächerkrieg
Fließend verknüpft Harriet Roth in ihrer Veröffentlichung Architektur- mit
Zeitgeschichte und berichtet anschaulich über die beruflichen Verbindungen
und das kulturelle Umfeld, in dem die neuen städtebaulichen Ideen auch
gegen politische Widerstände Gestalt annahmen. Die ideologische
Auseinandersetzung, die stellvertretend zwischen Gegnern und Befürwortern
des Flachdachs geführt wurde, mündete in Berlin 1926 im „Zehlendorfer
Dächerkrieg“.
Detailreich recherchiert die Autorin ebenfalls die Biografien und weiteren
Stationen der ersten Bewohner der Zehlendorfer Häuser – die Familien
Wilinski, Loewy und Chajes flohen 1933 vor den Nazis nach Palästina.
Die städtebaulich fortschrittliche Erschließung des von Kiefern
durchzogenen Gebiets in Zehlendorf-Nord am südlichen Rand Berlins ist eng
verbunden mit dem unternehmerischen Engagement und der
Experimentierfreudigkeit des jüdischen Bauunternehmers und Terrainbesitzers
Adolf Sommerfeld. 1933 musste auch er Deutschland verlassen – flüchtete
erst nach Frankreich, dann nach Palästina. Ab 1938 lebte er in England und
änderte seinen Namen in Andrew Sommerfield.
## Sommerfelds Aue
1920 hatte der gelernte Zimmermann Sommerfeld sein eigenes Wohnhaus in
Holzbauweise vom Bauhaus-Gründer Walter Gropius entwerfen lassen. 1922
beauftragte er nun das Büro Mendelsohn mit der Planung des Projekts
„Sommerfelds Aue“ – den ursprünglich zwölf vorgesehenen, um einen zentr…
Platz angelegten modernen Villen mit Flachdach in der heutigen
Onkel-Tom-Straße.
Doch da Mendelsohn zu der Zeit in Haifa tätig war, übergab er die Planung
an seinen damaligen Mitarbeiter Richard Neutra. Der entwarf für die
Parzellen ein Einfamilienhaustypenmodell in gehobenem Standard als Kubus
mit einem Obergeschoss und horizontal mit einem rostroten Band abgesetzt.
Zwei der vier Gebäude mit den Hausnummern 85, 87, 89 und 91 wurden
zusätzlich mit einer motorisierten Drehbühne ausgestattet, die den Wohnraum
um wechselnde Funktionen erweitern sollte. Nur wurde diese Erfindung von
den späteren Bewohnern nicht angenommen und deshalb schon bald wieder
entfernt.
Allerdings verließ Richard Neutra noch vor Fertigstellung der vier
Musterhäuser 1923 Berlin Richtung New York – ein Grund für die lückenhafte
Dokumentation des Vorhabens, die über die genauen Abläufe sowie die
Urheberschaft einzelner gestalterischer Entscheidungen im Nachhinein
oftmals nur mutmaßen lässt. So wurde vermutlich das bei
Renovierungsarbeiten 2001 im Innern des Hauses Nr. 87 freigelegte und
danach originalgetreu rekonstruierte Farbkonzept gar nicht von Neutra,
sondern durch Schüler des Bauhauses entwickelt, die Sommerfeld auf Anfrage
von Gropius engagiert hatte.
Doch konnte Harriet Roth, die selbst Bewohnerin eines der Neutra-Häuser
ist, bei ihrer Recherche auf bereits vorliegenden Studien zur Geschichte
der „Sommerfelds Aue“ zurückgreifen. So veröffentlichte die
Architekturhistorikerin Celina Kress schon 2011 ihre umfassenden
Forschungsergebnisse über den innovativen Einfluss des Projektentwicklers
auf den Siedlungsbau in „Adolf Sommerfeld – Andrew Sommerfield. Bauen für
Berlin 1910–1970“.
## Weiße kubische Häuser
Zu einem Besuch der „Sommerfelds Aue“ mit der Berliner
Architekturhistorikerin verabredet, verlassen wir den U-Bahnhof „Onkel
Toms Hütte“ an seinem südlichen Ausgang und biegen links in die
Onkel-Tom-Straße ein. Rechts an der Argentinischen Allee liegen die von
Taut, Häring und Salvisberg farbig gestalteten Siedlungsbauten. Nach nur
wenigen Metern tauchen die durch hohe Kiefern überraschend versteckt
liegenden vier weißen kubischen Häuser auf. Besonders auffällig sind die
für die spätere Architektur Richard Neutras völlig untypischen kleinen
Fenster.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite macht uns Celina Kress auf ein
Sommerfeld-Projekt ganz anderer Bauart aufmerksam – ein Fachwerk im
britischen Landhausstil. Der Bauunternehmer hatte das Doppelhaus
ursprünglich als Musterhaus für Reparationslieferungen an Frankreich 1921
entwickelt. Vis à vis der Neutra-Häuser erreichen wir über einen schmalen
Weg die fast gleichzeitig 1922 von Sommerfeld gebaute Kleinsiedlung
„Kieferngrund“.
Um einen dörflich anmutenden Anger gruppiert, existieren noch heute acht
der neun mit Schindeln verkleideten Blockhäuser. Ursprünglich als einfacher
Siedlerdoppelhaustyp 1920 patentiert, hatte man die Holzhäuser für
Zehlendorf in Einfamilienhäuser verwandelt und aus den Stallanbauten
Wintergärten gemacht.
## Seriell innovativ
Diese drei höchst unterschiedlichen Architekturbeispiele zeigen, wie
Sommerfeld bis zur Anbindung und endgültigen Erschließung das 1922
erworbene Gelände vor allem dafür nutzte, experimentelle und seriell
innovative Bautypen auszuprobieren, bis schließlich 1926 seine Firma mit
dem Bau der gewerkschaftsnahen Gehag Großsiedlung „Onkel-Toms-Hütte“
beginnen konnte.
Schon wenige Jahre später war es mit einer Architektur der sozialen Moderne
in Deutschland vorbei. Richard Neutra hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst
als Architekt in den USA etabliert und avancierte dort zum Vertreter des
„California Modernism“.
1 May 2017
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
Ausstellung
Sozialer Wohnungsbau
Design
Bauhaus
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