# taz.de -- Rehabilitierung von Homosexuellen: Zu späte Entschädigung | |
> Die Entscheidung der Bundesregierung, die nach §175 verurteilten Schwulen | |
> und Bisexuellen zu entschädigen, hat zu lange auf sich warten lassen. | |
Bild: Während viele schon lange homosexuelle Sichtbarkeit feierten, saßen ein… | |
Als ein 19-Jähriger Frankfurter im Jahr 1951 eine gerichtliche Vorladung | |
nach Paragraf 175 erhält, springt er, aus Angst vor sozialer Ächtung und | |
strafrechtlicher Verfolgung, vom Goetheturm in den Tod. Über 45.000 schwule | |
und bisexuelle Männer wurden ab 1949 (und nach einer Entschärfung des | |
Paragrafen 175 im Jahr 1969 ungefähr 4.500 weitere bis zum Jahr 1994) in | |
Deutschland für gleichgeschlechtlichen Sex verurteilt. | |
Jetzt will die Bundesregierung die Urteile endlich aufheben und die Opfer | |
mit jeweils 3.000 Euro plus 1.500 Euro je angefangenem Jahr erlittenem | |
Freiheitsentzug entschädigen. Der gestrige Beschluss kommt allerdings nicht | |
nur viel zu spät, er ist auch längst nicht ausreichend, um von einer | |
ernsthaften „Wiedergutmachung“ zu sprechen. | |
Die neugegründete Bundesrepublik behielt absichtlich die durch die | |
Nationalsozialisten verschärfte Gesetzgebung bei und setzte sich gegen die | |
amerikanischen Alliierten durch, um die als „widernatürlich“ angesehenen | |
Schwulen weiterhin verfolgen zu können. Und tatsächlich wurde erst im Jahr | |
2004 der letzte nach Paragraf 175 verurteilte Häftling entlassen – nach | |
zehnjähriger Freiheitsstrafe für einvernehmlichen Sex mit einem | |
17-Jährigen. | |
Die LGBT-Bürgerrechtsbewegung erkämpfte zwar die Möglichkeit, auch als | |
Nicht-Heterosexueller ein einigermaßen freies Leben führen zu können. Doch | |
während viele schon lange auf bunten Paraden für Anerkennung auf die Straße | |
gingen und homosexuelle Sichtbarkeit feierten, saßen einige noch im Knast – | |
für LGBT-Jugendliche in Deutschland heute unvorstellbar. | |
## „Wiedergutwerdung“ und Verfolgung | |
Dass Deutschland mit der Rehabilitierung so lange gewartet hat, bis 90 | |
Prozent der Opfer verstorben sind, ist beschämend und zeigt, dass die | |
„Vergangenheitsbewältigung“ wohl doch nicht so gut geklappt hat, wie immer | |
wieder behauptet wird. Während sich Deutschland für die angeblichen Erfolge | |
der Entnazifizierung feierte, mussten die allermeisten Verurteilten des | |
weiterlebenden Nazi-Paragrafen als Straftäter sterben und sich bis an ihr | |
Lebensende schuldig fühlen, weil sie Sex mit Männern hatten. | |
Die alten Nazis hätten wohl gerne schon ab dem ersten Tag des Kriegsendes | |
einen Schlussstrich gezogen. Dass über die eigene Schuld gesprochen wird, | |
haben sie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik erfolgreich | |
vermieden. Die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ (Eike Geisel) ging mit der | |
Verfolgung von knapp 100.000 gleichgeschlechtlich lebenden Männern einher, | |
von denen ungefähr die Hälfte verurteilt wurde. | |
## Keine Entschädigung der Arbeitsplatzverluste | |
Darüber hinaus wurde das Lebensglück all jener, die im Geheimen leben und | |
lieben mussten, durch die staatliche Verfolgung massiv eingeschränkt: | |
Millionen lebten in ständiger Angst vor Entdeckung, Zehntausende wurden | |
arbeitslos. Dies geschah durch Denunziationen feindlich gesinnter Nachbarn | |
oder auch durch Razzien der Polizei, die ohne Problembewusstsein die Rosa | |
Listen der Nazis weiter führten. | |
Viele damals verfolgte Schwule und Bisexuelle müssen heute weiterhin von | |
kleinsten Renten leben, die Bundesregierung scheint damit kein Problem zu | |
haben – sonst würde sie immerhin die Folgen der Arbeitsplatzverluste | |
angemessen entschädigen. | |
22 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Frederik Schindler | |
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