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# taz.de -- Wirtschaftbeziehungen der Türkei zur EU: Sanktion oder Zollunion
> Für die Türkei ist die EU der wichtigste Handelspartner. Doch bisher übt
> die Union keinerlei ökonomischen Druck auf das Land aus.
Bild: Druckmittel Export: Arbeiterinnen in einer türkischen Textilfabrik
Berlin taz | Mitte März kam die Nachricht, die dem türkischen
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gar nicht gefallen haben dürfte. Die
Arbeitslosigkeit in der Türkei ist laut Wirtschaftsministerium auf 12,7
Prozent gestiegen. Das ist der höchste Wert seit sieben Jahren – und das
wenige Wochen vor dem Referendum über die umstrittene Einführung eines
Präsidialsystems in der Türkei.
Erdoğan verbucht den Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre als großen
Erfolg seiner Politik. Doch nun steigt die Arbeitslosigkeit, und die
Inflation betrug allein im Februar mehr als zehn Prozent. Ausländische
Anleger halten wegen der anhaltenden politischen Instabilität im Land
Investitionen zurück. Während Erdoğan sich selbstbewusst gegenüber Kritik
aus dem Ausland gibt, könnte die kränkelnde türkische Wirtschaft die
Schwachstelle des Präsidenten sein.
Eine Schwachstelle, die Deutschland und die EU nutzen könnten. Denn die
Türkei ist wirtschaftlich abhängig von der EU. Knapp 40 Prozent seines
Außenhandels wickelt Ankara mit den Staaten der Europäischen Union ab. Und
innerhalb der EU ist Deutschland mit einem Handelsvolumen von fast 37
Milliarden Euro der wichtigste Handelspartner.
Deshalb stellt sich die Frage: Können Deutschland und die EU ihr
ökonomisches Gewicht einsetzen, um politischen Einfluss auf die türkische
Regierung zu nehmen? Bereits im November schlug der luxemburgische
Außenminister Jean Asselborn Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei vor.
„Das ist ein absolutes Druckmittel. Und in einem gewissen Moment kommen wir
nicht daran vorbei, dieses Druckmittel einzusetzen, um der unsäglichen Lage
der Menschenrechte entgegenzuwirken“, sagte Asselborn damals. Die
Bundesregierung erteilte der Forderung sogleich eine Absage. Daran hat sich
nichts geändert. „Die Frage von Wirtschaftssanktionen stellt sich nicht“,
teilte eine Regierungssprecherin auf Anfrage der taz mit.
„Sanktionen gegen die türkische Wirtschaft würden die AKP und die Türkei
stark treffen“, sagt hingegen Caner Aver, der an der Universität
Duisburg-Essen zu EU-Türkei-Beziehungen forscht. Viele türkische
Unternehmen seien immer enger mit der AKP verwoben. „Sanktionen gegen die
Türkei würden aber auch die Bevölkerung treffen“, gibt Aver zu bedenken.
Die Arbeitslosigkeit würde steigen, und die ohnehin angespannte
wirtschaftliche Lage würde sich weiter verschärfen. Die Maßnahmen würden
außerdem auch die europäische Wirtschaft treffen. Dass es wirklich zu
Sanktionen kommt, glaubt Aver deshalb nicht. Finanzminister Wolfgang
Schäuble (CDU) hat in der vergangenen Woche Ankara zwar Wirtschaftshilfen
unter Verweis auf die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten
Deniz Yücel verweigert. Die Kürzungen anderer Zuwendungen, zum Beispiel in
der Entwicklungszusammenarbeit, sind laut Entwicklungsministerium
allerdings nicht vorgesehen.
Bliebe noch die EU-Handelspolitik. Sie könnte der Schlüssel zur politischen
Einflussnahme auf die türkische Regierung sein. Seit 1995 unterhält die
Europäische Union eine Zollunion, ein Freihandelsabkommen, mit der Türkei.
Durch eine Ausweitung des Abkommens rechnet die EU-Kommission mit einer
Zunahme der Exporte Richtung Bosporus um 27 Milliarden Euro, das wäre ein
Plus von 34 Prozent. Für EU-Unternehmen geht es also um viel Geld.
Noch wichtiger dürfte die Ausweitung der Zollunion wegen der anhaltenden
wirtschaftlichen Probleme aber für Ankara sein. Die Türkei könnte laut
EU-Kommission in einer ausgeweiteten Zollunion zusätzliche Waren im Wert
von fünf Milliarden Euro in die Staatengemeinschaft einführen. Das
entspräche einer Steigerung des Exports der Türkei in die EU von etwa 7,5
Prozent und einem Anteil von 3,4 Prozent der Gesamtexporte.
## Verhandlungen trotz Spannungen
Trotz der politischen Spannungen zwischen der EU und der Türkei hat die
Europäische Kommission die Mitgliedstaaten um ein Mandat für weitere
Verhandlungen gebeten. In ihrer Pressemitteilung lobt die Kommission die
„Chancen für EU-Unternehmen“, die aus dem Abkommen erwüchsen. Es heißt a…
auch: „Achtung vor Demokratie und Grundrechten wird ein wichtiger
Bestandteil des Abkommens sein.“
Ankara möchte bei den Verhandlungen vor allem die Ausweitung des Abkommens
auf den für die Türkei wichtigen Agrarsektor. Die Ausweitung der Zollunion
mit der Türkei hat deshalb Fürsprecher. „Sie würde die Möglichkeit bieten,
Einfluss auf die Türkei zu nehmen“, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir der taz.
Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages (DIHK), sieht das ähnlich. Gerade Textilien und
Agrarprodukte seien ein wichtiger Teil der türkischen Exportwirtschaft. „Da
kann die EU natürlich mit möglichen Zöllen auf diese Produkte den Dialog
über rechtsstaatliche Prinzipien antreiben.“
Eine Absage an die Ausweitung der Zollunion gibt es hingegen von der
Linkspartei. Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der
Linken-Bundestagsfraktion, sagte der taz: „In einem schwieriger werdenden
Umfeld könnte für Erdoğan die Erweiterung der Zollunion genau der rettende
Anker sein.“ Nicht nur türkische Konzerne profitierten wirtschaftlich von
diesen Maßnahmen, sondern Erdoğan selbst werde politisch stabilisiert.
Ob die Kommission ein Mandat zur Neuverhandlung der Zollunion bekommt,
steht noch nicht fest. Wann sich die Staats- und Regierungschefs im
Europäischen Rat überhaupt mit dem Thema befassen, ist ebenfalls offen. Aus
Österreich, das in den vergangenen Monaten vehement den Abbruch der
EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert hatte, gab es allerdings
bisher kein öffentliches Veto. Im Gegenteil: Das Außenministerium
befürwortet in einem Papier von Mitte März, aus dem Die Presse zitiert, die
„Modernisierung“ der Zollunion. Gegen eine Personenfreizügigkeit spricht
sich das Außenamt aber aus. Waren sollen frei verkehren dürfen, Menschen
aber nicht.
28 Mar 2017
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
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Freihandel
Sanktionen
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