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# taz.de -- Johanna von Hammerstein über Flucht: „Es ist das letzte Mittel“
> Johanna von Hammerstein, die selbst ein syrisches Mädchen aufnahm, über
> Ihre Anzeige gegen die EU wegen unterlassener Hilfleleistung für
> Flüchtlinge
Bild: Ist persönlich eher leise: Johanna von Hammerstein, Mitbegründerin der …
taz: Frau von Hammerstein, war die Strafanzeige gegen die EU wegen
unterlassener Hilfeleistung in den „Hotspot“-Flüchtlingsaufnahmelagern Ihre
erste überhaupt?
Johanna von Hammerstein: Ja.
Was war das für ein Gefühl?
Da musste ich schon ziemlich über meinen Schatten springen. Ich habe an
mich den Anspruch, jemand Abwägendes zu sein und werde von meinem Umfeld
auch eher so wahrgenommen.
Mussten Sie sich überwinden, weil es etwas Aggressives hat, der EU
Körperverletzung mit Todesfolge anzulasten?
Es wird jedenfalls an manchen Stellen so wahrgenommen. Ich weiß gar nicht,
ob es den Tatsachen entspricht, wir schöpfen ja nur die rechtsstaatlichen
Wege aus. Wir sind davon überzeugt, dass es ein letztes Mittel ist, um
darauf hinzuweisen, wie dramatisch die Situation ist. Ich habe parallel zu
der Strafanzeige einen Brief an Herrn de Mazière geschrieben, den ich
persönlich kenne, und habe ihm das erklärt – man zeigt ja nicht einfach
jemanden an, den man kennt.
Was stand in dem Brief?
Ich habe ihm unter anderem geschrieben, dass zu Zeiten der Gründung der
Gruppe alle ganz dicht bei Frau Merkel standen. Und in der Gruppe sind
Leute, die in der SPD aktiv sind, bei der Linken oder auch parteilos. Das
ist schon ein weiter Weg hin zu einer Strafanzeige. Wobei wir betonen, dass
sie sich nicht nur gegen Frau Merkel und Herrn de Mazière, sondern gegen
die europäischen Regierungen richtet. Die haben gemeinschaftlich den
Entschluss gefasst, Hotspots einzurichten.
War jemand aus der Gruppe in einem dieser Hotspots?
Von uns acht niemand. Aber wir kennen die Berichte von Institutionen, die
nicht den Ruf haben, zu übertreiben, etwa das UNHCR oder Ärzte ohne
Grenzen: da bricht man beim Lesen entweder in Tränen aus oder es überkommt
einen das kalte Grausen. Wenn die Europäer entscheiden, solche Lager
einzurichten, dann müssen sie auch dafür sorgen, dass sie vernünftig
geführt werden.
Hat de Mazière auf Ihren Brief reagiert?
Bislang nicht.
Die Hoffnung von „Haltung zeigen“ ist, dass möglichst viele Leute
ihrerseits Anzeige erstatten. Wie ist das Echo bislang?
Wir wissen von der Staatsanwaltschaft, dass etliche Anzeigen eingegangen
sind, aber wir kennen nicht die genaue Zahl. Für mich ist relevant, dass
wahrgenommen wird, dass sich Menschen darüber austauschen. Auch in meinem
Bekanntenkreis gehen die Meinungen darüber auseinander.
Über die Anzeige oder über den Sachverhalt als solchen?
Über das Mittel der Wahl. Wir sind als Initiative „Wir zeigen Haltung“ mit
einem anderen Schwerpunkt gestartet: Wir wollten dem lauten Populismus
etwas entgegensetzen, wir wollten die Stimmen derjenigen bündeln, die in
der Flüchtlingshilfe aktiv sind und merken, es geht, es ist kein
Wunderwerk. Diesen Ansatz werden wir auch weiterverfolgen – aber wir
finden, das schließt nicht aus, jetzt Anzeige zu erstatten.
Ist die Anzeige vor allem ein symbolischer Akt?
Wir hätten die Strafanzeige nicht gestellt, wenn wir von vornherein gewusst
hätten, dass sie völlig aussichtslos ist. Eine Anzeige löst zuallererst
aus, dass ermittelt werden muss. Wenn die Ermittlungen dann ergeben, dass
die Angezeigten rein strafrechtlich nicht zur Verantwortung zu ziehen sind,
mag das so sein. Aber was gerade geschieht, entspricht so gar nicht dem
Anspruch eines Friedensnobelpreisträgers, wie es die EU ist. Aber an diesen
Anspruch appellieren wir, darauf wollen wir sie festnageln. Es kann nicht
sein, dass die EU zulässt, dass in den Hotspots Menschen ums Leben kommen.
Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Machen die Mitglieder von „Wir zeigen Haltung“ gerade erstmals die
Erfahrung, mit dem eigenen Staat zu fremdeln?
Das Spektrum ist sehr breit: von Leuten, die seit vielen Jahren politisch
aktiv sind bis zu solchen, die erst durch die Flüchtlingsthematik zu
politischem Engagement gekommen sind. Von daher gibt es solche, die schon
früher gefremdelt haben und solche wie mich – ich bin ein durch und durch
mit der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung identifizierter Mensch und
hatte eine grundsätzlich wohlwollende Haltung zu unserer Regierung. Ich
muss aber sagen, dass das letzte Jahr das ziemlich ins Wanken gebracht hat.
Inwiefern?
Weil ich den Eindruck habe, dass subkutan die AfD auf breiter Basis Erfolg
hat. Die Regierung reagiert auf sie aus der – wie ich meine – irrigen
Einschätzung heraus, dass breite Teile der Bevölkerung eine solche Politik
wollen. Ich bin nicht jemand, der sagt: Wir müssen alle Grenzen öffnen,
kommt alle her, die ihr mühselig und beladen seid. Das kann Deutschland
nicht leisten. Aber ich finde das „Argument“, wir können nicht die ganze
Welt retten, immer idiotisch.
Wie argumentieren Sie?
Wir können nicht alle retten – aber einen Teil. Wir sind eine starke
Gesellschaft, wir sind ein wirtschaftlich gut aufgestelltes Land. Wir haben
bisher eine stabile Demokratie – was braucht es mehr, um Menschen, die
wirklich in Not sind, aufzunehmen und ihnen, vielleicht auch nur für einen
gewissen Zeitraum, Schutz zu geben? Es geht ja nicht darum, dass wir jedes
Jahr 800.000 Leute aufnehmen und integrieren.
Ist es realistisch, Menschen aufzunehmen mit der Ansage: In einem Jahr
müsst ihr zurück? Und bis dahin keine Integrationsanstrengungen zu
unternehmen?
Ich glaube, Deutschland braucht dringend ein vernünftiges
Einwanderungsgesetz, das solche Dinge regelt. Diese immer wieder
verlängerten Aufenthaltserlaubnisse scheinen mir nicht hilfreich, weil sie
sowohl die aufnehmende Gesellschaft als auch die Menschen, die kommen, in
einem Zwischenstadium lassen, in dem sie sich nicht wirklich aufeinander
einlassen können. Ich bin dafür, dass man die Menschen, die ja vermutlich
ihr Heimatland lieben, hier aufnimmt und ihnen sagt: Ihr könnt hier Deutsch
lernen, eine Ausbildung machen, und wenn ihr wollt und könnt, geht ihr
zurück in euer Land, und wir unterstützen euch dabei. Wenn in Syrien
irgendwann etwas herrscht, das man Frieden nennen könnte, wären Menschen,
die hier gut behandelt worden sind, die besten Botschafter für unser Land.
Wenn man sie hier nicht ausbremst. Leider erleben wir zunehmend genau
solche Geschichten. Wir haben jemanden in der Gruppe, der sagt: Ich bekomme
hier permanent eine Anleitung dafür, wie man Radikalismus ausbilden kann.
Woran macht er das fest?
Da ist etwa eine Familie über die Balkanroute gekommen, deren einer Sohn
auf der Flucht 18 wurde, irgendwo hängenblieb und nun nicht nachreisen
darf. Es gibt viele Verfahren, bei denen man das Gefühl hat, dass die
Behörden bewusst bremsen. Dass die Menschen dann keine besonders gute
Meinung von unserem Staat haben, finde ich naheliegend. Ich erlebe aber
auch gut funktionierende Behörden, die Interesse an Integration haben. Je
lokaler, desto mehr Interesse gibt es, dass es gut funktioniert. Wobei ich
nicht sagen würde, dass unter den Flüchtlingen alle fleißig sind und nichts
Böses im Sinn haben. Das ist genauso ein Schnitt durch die Gesellschaft,
wie es ihn in Deutschland auch gibt.
Sie selbst haben ein syrisches Mädchen aufgenommen.
Das ist ein junges Mädchen, das mit seiner Schwester hierher kam und in der
Erstaufnahme in der Schnackenburgallee in Hamburg lebte. Sie ist jemand,
der sich nicht schüchtern in der Ecke verdrückt, woraufhin sie unangenehme
Erfahrungen mit ihren Landsleuten machen musste. Das war der Moment, in dem
ihr damaliger Vormund sagte: Es wäre gut, wenn es eine andere Lösung gäbe
als die Erstaufnahmestelle.
Das ist wohl einer dieser Momente, in denen man sieht: Da ist eine
emanzipierte Frau einerseits und andererseits Männer, die das als Angebot
verstehen, und beide hier wollen Aufnahme und Unterstützung.
Ja – ich kann mich darüber aufregen, wenn die Syrer den Afghanen oder die
Afghanen den Syrern das Schwarze unter den Fingernägeln nicht gönnen. Wenn
die sich wegen Kleinigkeiten in die Wolle kriegen, denke ich: Ihr müsst
euch nicht wundern, wenn Deutsche sagen: Könnt ihr euch nicht entsprechend
eurer Gastrolle benehmen? Ich glaube, dass es klare Regeln braucht. Und ich
finde es völlig in Ordnung, dass Leute, die sich nicht daran halten, die
Palette dessen, was unser Rechtsstaat vorsieht, zu spüren bekommen.
Wie ist das Zusammenleben mit dem syrischen Mädchen, das Sie aufgenommen
haben?
Wir hatten das Glück, dass sie Englisch sprach – inzwischen spricht sie
besser Deutsch als Englisch – daher konnten wir uns sofort verständigen. Es
war eine spannende Erfahrung. Sie ist zwar mein Mündel und minderjährig,
braucht also Begleitung, aber ich habe nicht den Anspruch oder das Recht,
sie zu erziehen. Ich will sie aber nicht wie einen zahlenden Gast behandeln
mit einem Fach im Kühlschrank, der ansonsten nichts mit uns zu tun hat.
Also müssen wir das eine oder andere ausdiskutieren.
Eine Bekannte, die Deutschunterricht für Flüchtlinge gibt, ist eher
ernüchtert: Sie hat freundlichen Kontakt zu den Schülern – und zugleich das
Gefühl, dass Parallelgesellschaften entstehen.
Vielleicht ist das eine Art von deutschem Perfektionismus, dass wir gerade
bei Menschen, die von außen zu uns kommen, besonders hohe Ansprüche an ihre
Integration stellen. Meine Schnittmenge mit Menschen, die den größten Teil
ihrer Freizeit im Fußballstadion verbringen, ist ziemlich gering. Da reden
wir auch nicht von Parallelgesellschaften. Sie leben ihr Leben und halten
sich an die Regeln, so wie ich mein Leben lebe und mich an die Regeln halte
und das ist in Ordnung so. Wenn dann Leute aus Syrien kommen und ihr Leben
und ihren Glauben leben und sich dabei an die rechtsstaatlichen Regeln
halten, finde ich das völlig in Ordnung. Und wenn sie nur bedingt Deutsch
sprechen, damit aber bei VW am Band zurechtkommen, sehe ich darin kein
Drama. Ich finde, dass man diesen hohen Anspruch an Integration auch ein
bisschen herunterbrechen muss.
13 Mar 2017
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Flüchtlinge
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Klage
Flüchtlingshilfe
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Schwerpunkt Flucht
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