# taz.de -- Gastbeitrag zu Flüchtlingen in Serbien: Das Elend von Belgrad | |
> Wohin Obergrenzen für Flüchtlinge und das Gerede darüber führen, hat | |
> unsere Gastautorin in Serbien gesehen. Sie besuchte ein wildes | |
> Flüchtlingslager. | |
Bild: Afghanische Flüchtlinge sitzen in Belgrad fest | |
Alles, was er will, ist, einen Beruf zu erlernen und davon zu leben. „We | |
are humans like you. We have the right to learn and to live“, „Wir sind | |
Menschen wie ihr. Wir haben auch ein Recht darauf, zu lernen und zu leben“, | |
sagt Arasch zu uns. Wir stehen inmitten der Lagerhallen in Belgrad, in den | |
sogenannten baracks, in denen sich 500 bis 1.000 nichtregistrierte | |
Flüchtende aufhalten. | |
Der Geruch von Rauch und giftigen Dämpfen hängt schwer in der Luft. Noch | |
vor einer Woche herrschten hier Minusgrade. Um nicht zu erfrieren, warfen | |
die Flüchtenden alles Brennbare ins offene Feuer. Oft konnte man vor lauter | |
Rauch nicht weiter als einen halben Meter sehen. | |
Arasch ist 19 Jahre alt, will Ingenieur werden und kommt aus einem Dorf in | |
der Nähe von Kabul. Dort toben die Kämpfe. Er erzählt, er habe lieber mit | |
einem Stift in der Hand als Ingenieur Gutes tun wollen, anstatt mit der | |
Waffe in der Hand gezwungen zu sein, Menschen zu töten. Also machte er sich | |
auf den Weg nach Europa. Seit acht Monaten ist er auf der Flucht und hängt | |
nun in Belgrad fest. Während wir uns mit ihm unterhalten, verteilen | |
Freiwillige der Initiative „Hot Food Idomeni“ warme Mahlzeiten. Für viele | |
Refugees die einzige Mahlzeit am Tag. Es gibt keinen Strom, keine Heizung, | |
keine sanitären Anlagen. | |
## Wohin die Obergrenzen führen | |
Wir schreiben Ende Februar 2017. Gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung | |
bin ich nach Belgrad gefahren, um mit eigenen Augen zu sehen, wohin | |
Obergrenzen am Rande Europas führen. Um uns ein umfassendes Bild zu machen, | |
sprechen wir auch mit Vertretern der serbischen Regierung, der deutschen | |
Botschaft, dem Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Serbien, mit | |
NGOs und Solidaritätsinitiativen. Zudem besichtigen wir ein offizielles | |
Flüchtlingscamp sowie die Baracken im Stadtzentrum. | |
In den offiziellen Camps ist die Situation schlecht, aber deutlich besser | |
als in den Baracken. Warum scheuen so viele der Flüchtenden die offizielle | |
Registrierung? Die Camps in der Nähe der Hauptstadt sind meist überfüllt. | |
Davon können wir uns selbst überzeugen, als das Team der örtlichen | |
Hilfsorganisation „Info Park“ versucht, einen Platz für eine Familie zu | |
finden, die vollkommen entkräftet in Belgrad angekommen ist. In den | |
Unterkünften, die noch an diesem Abend erreichbar sind, ist nichts frei. | |
Zudem gibt es Berichte, dass Geflüchtete während des Transports in die | |
offiziellen Camps von staatlichen Einsatzkräften mit Gewalt zurück nach | |
Bulgarien abgedrängt wurden. Das gewaltsame Zurückdrängen ist zwar (noch) | |
keine offizielle serbische Politik, aber es kommt trotzdem vor. Nachrichten | |
über diese Vorfälle werden von den Schleppern umgehend verbreitet. Auch | |
weil die Skepsis gegenüber den Regierungsstellen ihre Geschäfte florieren | |
lässt. Außerdem hat es sich herumgesprochen, dass Ungarn kaum noch jemanden | |
offiziell ins Land lässt. Also bleiben einige Geflüchtete auch deshalb im | |
Stadtzentrum, weil sie dort eher die Schlepper erreichen. | |
Alle hier wissen, mit welchen Gefahren das inoffizielle Überwinden des | |
Zauns zwischen Serbien und Ungarn verbunden ist. Doch viele versuchen es | |
trotzdem immer wieder. Einige zeigen uns die „Souvenirs“ der ungarischen | |
Polizei: Blutergüsse an den Beinen und andere Verletzungen. Gezielte | |
Schläge auf den Oberschenkel gehören zur Standardbehandlung. Einem jungen | |
Afghanen wurde aufs Auge geschlagen. | |
Die ungarische Polizei scheint sich inzwischen auf Misshandlungen | |
spezialisiert zu haben, die keine Narben hinterlassen – zumindest keine | |
sichtbaren. Zu diesen Misshandlungen gehört, dass Geflüchtete gezwungen | |
wurden, sich auszuziehen, mit Wasser übergossen und dann ohne Kleidung | |
hinterm Zaun ausgesetzt wurden – und das bei Minusgraden. | |
Diese Misshandlungen finden in einem EU-Mitgliedstaat statt. Sollten die | |
offiziellen Stellen der EU wirklich nichts davon wissen? Misshandlungen und | |
kollektive Ausweisungen ohne vorheriges rechtliches Verfahren sind ein | |
klarerer Rechtsbruch und unvereinbar mit der Flüchtlingskonvention sowie | |
Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls der Menschenrechtserklärung. | |
Auf dem Rückflug werden wir eine Pressemitteilung formulieren. Die | |
EU-Institutionen müssen entsprechende Untersuchungen einleiten und Ungarns | |
menschenverachtende Politik mit Sanktionen belegen. Wer untätig bleibt, | |
wenn ein EU-Mitgliedstaat Geflüchtete misshandelt, macht sich mitschuldig. | |
Auch Wegschauen und Dulden ist eine Art Mittäterschaft. | |
## Auswirkung der Debatten in Deutschland | |
In Serbien erlebe ich, welche Auswirkungen allein die Diskussion um | |
Obergrenzen haben kann. Das Land will beweisen, dass es ein würdiger | |
EU-Kandidat ist, und orientiert sich deshalb an der Stimmungslage der EU, | |
insbesondere an jener in Deutschland. Als im Sommer 2015 die deutsche | |
Regierung die Menschenrechte zumindest rhetorisch hochhielt, unternahm | |
Serbien (im Rahmen seiner Möglichkeiten) alles, um die Menschenrechte von | |
Geflüchteten zu wahren. Sobald hingegen in Deutschland Politiker gegen | |
Geflüchtete Stimmung machen, verschärft das auf dem Balkan umgehend den | |
Druck auf Flüchtlinge. | |
Wenn in Deutschland die Menschenrechte zur Disposition stehen, tun sie dies | |
in der Folge auch am Rande Europas. Die Politik Deutschlands und die Art, | |
wie über Geflüchtete gesprochen wird, hat direkte Auswirkungen auf die | |
Lebenssituation von Menschen anderswo. Wir tragen eine enorme | |
Verantwortung. | |
„Wir sind auch Menschen. Wir haben auch ein Recht darauf, zu lernen und zu | |
leben.“ In diesen Worten eines 19-jährigen Afghanen, der seit Monaten unter | |
unmenschlichen Umständen in den Baracken in Belgrad lebt, steckt mehr | |
Verständnis für die Menschenrechte als in vielen Taten der Regierungen in | |
der EU. Diese Worte verkörpern mehr von den angeblichen europäischen Werten | |
als die gesamte europäische Flüchtlingspolitik. | |
An dieser Erkenntnis könnte man verzweifeln. Oder aber wir nehmen sie zum | |
Ansporn, zu kämpfen – für ein Europa, in dem der universelle | |
Flüchtlingsschutz, die große Lehre aus den dunkelsten Kapiteln europäischer | |
Geschichte, gilt. Ohne Wenn und Aber und ohne Obergrenzen. | |
10 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Katja Kipping | |
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