# taz.de -- Berlin-Neuköllns Bürgermeisterin Giffey: Die Instinktpragmatikerin | |
> Bürgermeisterin Franziska Giffey, SPD, regiert Berlin-Neukölln | |
> realistisch, aber optimistisch. Sie verzichtet auf die Befolgung einer | |
> reinen Lehre. | |
Bild: Giffey verkörpert eine Art „Stunde-null-Ideal“ | |
Das muss wohl dieses Multikulti sein: Von Mies van der Rohes | |
Barcelona-Sesseln bis zu Altberliner Ablegern des Gelsenkirchener Barock | |
ist alles dabei im Berlin-Neuköllner Rathaus. In einer Ecke von Franziska | |
Giffeys Büro wacht Willy Brandt als neorealistische Skulptur. | |
Giffey, 38, ist seit 2015 Neuköllns Bürgermeisterin. Sie empfängt mich | |
unamtlich lächelnd. Als ich den Recorder aufstelle, staune ich, dass sie | |
keine Anstalten macht, ihrerseits das Gespräch aufzuzeichnen. Franziska | |
Giffey verlässt sich auf ihren Instinkt. „Ich versuche, mit den Leuten ganz | |
normal zu reden; dass man sich begegnet, wie man sich als Mensch begegnet, | |
und erst danach kommt das politische Amt.“ Grundoptimistisch sei sie: „Bei | |
mir ist das Glas immer halbvoll.“ Eine für ihren Job notwendige Haltung. | |
Neukölln: 328.000 Einwohner, 43 Prozent mit Migrationshintergrund, 28.000 | |
funktionelle Analphabeten, hohe Arbeitslosigkeit, zugleich | |
Gentrifizierungsquartier. Multikulti? Ob man das so noch bezeichnen kann, | |
ist ein politischer Streitfall. | |
Sie habe gelernt, zwei Kategorien zu unterscheiden, sagt Giffey: zum einen | |
die Bedenkenträger. „Und die anderen, die sagen: Lass uns mal kucken, ob’s | |
doch möglich ist.“ Eine ihrer Grunderfahrungen sei: „Wenn man will, gibt�… | |
einen Weg. Und die, die wollen, die Starken, die müssen Sie unterstützen.“ | |
Wer es verstehe, sie um sich zu sammeln, sei selbst stark. Unversehens | |
fühlt man sich selber auf der Seite der Guten, der „Starken“. | |
Man muss aufpassen, dass man nicht dem Charme ihrer weich fließenden Stimme | |
erliegt. Diese Stimme ist der Ausgangspunkt ihrer politischen Karriere. | |
Allerdings zunächst negativ. Lehrerin für Englisch und Französisch wollte | |
sie werden. Aber die Ärzte stellten eine Kehlkopfmuskelschwäche fest, die | |
keinen Beruf zuließ, der stundenlanges Reden erfordert. Damit war ein Traum | |
zerstört. | |
## Die Eltern verloren ihre Arbeit | |
Die in Frankfurt an der Oder geborene Franziska Giffey stammt aus einer | |
„klassischen Arbeiterfamilie“, Kfz-Meister der Vater, die Mutter | |
Buchhalterin. Sie war elf, als die Wende kam und sie das Gymnasium besuchen | |
durfte, eine neue Welt tat sich auf. Zugleich war es eine Krisenzeit. Die | |
Eltern verloren ihre Arbeit, mussten sich neu orientieren. Sie taten es, | |
„ohne zu hadern“. Das war auch ihre Maxime, als sie ihren Traum aufgeben | |
musste: „Planänderung“ und „Mach’s Beste draus“. | |
Giffey studiert Verwaltungs- und promoviert in Politikwissenschaft. | |
Parallel arbeitet sie in der Verwaltung. 2002 holt sie ihr Vorgänger im | |
Amt, Heinz Buschkowsky, als Europabeauftragte in sein Team. So stellt man | |
sich den Bildungsaufstieg vor. Giffey erwähnt nicht, wie viel Fleiß und | |
Wille dahinterstecken. Und Glück: Für sie ist die deutsche Einheit der | |
„Glücksfall des Jahrhunderts“, der ihr die Welt aufschließt – am Überg… | |
zur Adoleszenz. | |
Giffey verkörpert eine Art „Stunde-null-Ideal“. Sie überbrückt den | |
historischen Bruch mit der Idealisierung der Chance. So wie sie durch keine | |
„Unmöglichkeit“ eingeschüchtert ihren Job als Dauerkrisenmanagerin ausüb… | |
kann sich nur jemand verhalten, der gezwungen war und es verstanden hat, | |
zwei Lebensalter, Realitäten und Systeme zusammenzubringen. Es ist eine | |
komplexe Form von „Naivität“, aus der Giffey ihre Fähigkeit gewinnt, | |
lebensnahe Politik zu machen. Die behütende Familie mit | |
sozialdemokratischen Werten plus dem Aufstiegspotenzial der demokratischen | |
Gesellschaft sind die biografisch entscheidenden Komponenten. Bildung ist | |
für sie das Zauberwort. „Jedes Kind, ob reich oder arm geboren, soll seinen | |
Weg machen können.“ Vor diesem Hintergrund war es fast selbstverständlich, | |
sich in der SPD zu engagieren. | |
An der sie heute die „Selbstbeschäftigung“, Eifersüchteleien, Intrigen und | |
Selbstinszenierungen kritisiert. Die Leute, sagt sie, „finden das zum | |
Kotzen“. Nervig empfindet sie auch die Ferne von den realen Problemen vor | |
Ort. Ein Großteil ihres Engagements bestehe darin, sie in den politischen | |
Horizont der Entscheider zu bringen. Hier sieht sie eine Verwandtschaft | |
zwischen Lehrer- und dem Politikerberuf: Man müsse erklären können, | |
„miteinander reden“. Immer wieder versucht sie, Probleme am runden Tisch zu | |
klären. Die Stimme, die sie schonen muss, ist dabei womöglich ihr | |
Geheimnis. Wer nicht laut werden darf, muss verführend und überzeugend | |
sprechen. | |
## Das Wunder von Neukölln | |
Wovor aber hat sie Angst? Die Antwort kommt fast reflexartig: vor dem | |
wachsenden Hass. Vor fundamentalistischen Strömungen aller Couleur. Und vor | |
der Bildungsferne. 60 Prozent der Erstklässler Neuköllns litten an | |
Bildungsverzögerung. | |
Als wir über Momente des Glücks reden, überrascht sie mich mit der | |
Erzählung vom Besuch einer Schulklasse: 80 Prozent der Kinder aus | |
Hartz-IV-Familien, 90 Prozent nichtdeutsch. Die Kinder singen. Sie | |
rezitiert: „Im Land der Blaukarierten sind alle blau kariert, und wenn ein | |
Rotgefleckter sich mal dorthin verirrt, dann rufen Blaukarierte: ‚Der passt | |
zu uns doch nicht. Er soll von hier verschwinden, der rotgefleckte Wicht.‘ | |
“ Die Pointe kommt, als die Buntgemischten dem Andersaussehenden zurufen: | |
„Willkommen hier im Land!“ | |
Es ist ein Zitat aus der Erzählung über das Wunder von Neukölln, das sie | |
anstrebt. Die Bürgermeisterin ist gerührt. Die Fähigkeit, sich rühren zu | |
lassen, gehört zur Giffey’schen Mischung aus Optimismus, Pragmatismus, | |
analytischer Begabung und der Fähigkeit, auf Menschen aller Herkunft | |
zuzugehen. Sie selbst sagt, eigentlich sei sie „alter SPD-Typ“. | |
Manche politische Moden macht sie nicht mit. Einiges, was in der „reinen | |
Lehre“ gut sei, findet bei der Pragmatikerin keine Gnade, weil es sich | |
nicht angemessen realisieren lasse. Die Früheinschulung etwa, oft auch die | |
Inklusion. Reine Lehren kann sich jemand, der gegen Zwangsheirat und für | |
die Pflicht kämpft, am Schwimmunterricht teilzunehmen, der die Realisierung | |
des „Buntgemischten“ auf der Basis zivilgesellschaftlicher Werte anstrebt, | |
nicht leisten. | |
Als Giffey aufsteht, steht da Willy Brandt in der Ecke. Mehr von ihrer | |
Machart, und die SPD wäre zu retten, scheint er mir mit einem Zwinkern zu | |
sagen. Oder war das ein Lichtreflex? | |
18 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Schneider | |
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