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# taz.de -- Autor Jack Urwin über Männlichkeit: „Du musst kein Arsch sein“
> Wie Männer kommunizieren, kann für sie und andere mitunter tödlich enden.
> Buchautor Jack Urwin über toxische Männlichkeit.
Bild: Mann kann stark sein, muss aber trotzdem kein Arsch sein
taz: Herr Urwin, bei Diskussionen zu feministischen Themen gibt es immer
wieder Männer, die sagen: Das ist super, dass ihr was für Frauen macht –
aber wer kümmert sich um uns? Machen Sie das jetzt?
Jack Urwin: Das ist schwierig zu beantworten, denn ich habe einige Probleme
mit solchen Männern. Sie lassen häufig die Diskussion entgleisen und drehen
jedes Thema auf sich. Aber ja: Offensichtlich ist dies ein Buch über Männer
und es gibt ein Bedürfnis unter Männern, dieses Gespräch zu führen, das
viele Frauen schon seit langer Zeit führen. Vieles von dem, was ich
schreibe, wurde schon von feministischen Autorinnen zuvor bearbeitet. Aber
jetzt, da ein Mann darüber schreibt, beginnen Männer auch zuzuhören. Männer
haben Schwierigkeiten damit, anderen außer sich selbst zuzuhören.
Am Ende Ihres Buches steht eine kleine Aufzählung: Was Männer von
Geschlechtergleichheit haben. Braucht es solche Listen, um Männer für
dieses Thema zu begeistern?
Männer müssen gesagt bekommen, dass es Gründe gibt, weshalb ihnen das
wichtig sein sollte. Denn Männer besitzen noch immer die meiste Macht in
dieser Welt und nichts wird sich ohne ihre Hilfe ändern, leider. Es muss
also ganz klar gezeigt werden, wie das Patriarchat und Geschlechtergrenzen
sie selbst auch betrifft. Sonst kümmert sie das nicht.
Männlichkeit in ihrer toxischen Form, wie Sie sie beschreiben, ist tödlich
für andere. Kürzlich erschien in der New York Times ein Artikel mit der
Überschrift „Ehemänner sind tödlicher als Terroristen“. Ihr Punkt ist nu…
dass sie auch tödlich für Männer selbst ist. Männer gehen viel seltener als
Frauen zum Arzt, die Selbstmordrate unter Männern ist viel höher.
Männer haben sich bisher nicht wirklich auf die Auswirkungen ihrer
Männlichkeit interessiert. Und wenn ich nun sage, dass auch Männer unter
den Opfern sind, bekomme ich ihre Aufmerksamkeit. Das ist ein Skandal, aber
so denken Männer – vor allem weiße Männer. Die Gewalt, die von Männern
ausgeht, ist ein Phänomen. Etwa in den USA, wo Menschen so viel Angst vor
Terroranschlägen und Gefahr von außen haben: 98 Prozent aller
Massenerschießungen in den USA der letzten Jahre wurden von Männern
begangen. Wäre es irgendeine andere Gruppe, wären es Muslime oder Schwarze,
würden wir eine Diskussion darüber führen. Stattdessen wird kaum darüber
gesprochen.
Der Auslöser für Ihr Buch war ein [1][Artikel, den Sie 2014 für Vice]
geschrieben haben. Darin geht es um ihren Vater, der mit 51 Jahren an einem
Herzinfarkt gestorben ist.
Es gab mehrere Auslöser für das Buch. Der erste war definitiv der
Herzinfarkt meines Vaters, als ich neun Jahre alt war. Der kam sehr
unerwartet. In den Wochen danach fanden wir Tabletten gegen Herzbeschwerden
in seiner Jackentasche und die Untersuchung seines Herzens zeigte, dass er
bereits vorher einen Herzanfall hatte. Er wusste also, dass er Probleme
hatte – aber er sprach weder mit seiner Frau darüber noch mit einem Arzt.
Warum?
Wahrscheinlich wollte er uns beschützen, indem er nichts sagte. Aber hätte
er es getan – ich glaube, er wäre nicht gestorben. Das hat mich viele Jahre
beschäftigt, ohne dass ich selbst je mit irgendjemandem darüber gesprochen
hätte. Bis mir meine damalige Freundin sagte, dass ich meine Gefühle
unterdrücke und dass ich damit aufhören muss. Da begriff ich, dass das
genau ist, was mein Vater getan hat. Also begann ich, mit meinen männlichen
Freunden zu reden. Und die meisten hatten ähnliche Probleme, Depressionen,
Angststörungen. Ich begriff, dass das hier nicht nur mich betrifft. Viele
Männer wissen, dass sie Probleme haben, aber sie können sie nicht
formulieren oder gar zugeben.
Sie beginnen Ihr Buch mit einem historischen Teil. Warum ist das wichtig?
Wenn es um das soziale Geschlecht geht, um Gender, dann glauben manche
Leute noch immer, dass dies komplett mit dem biologischen Geschlecht
zusammen hängt. Vielleicht gab es Aspekte, die vor langer Zeit einmal
zugetroffen haben, etwa dass Männer in der Steinzeit Jäger waren und Frauen
mit den Kindern zu Hause blieben …
… was eine Projektion ist. In der Wissenschaft gibt es schon länger
Diskussionen genau darüber. Wir können nicht wissen, wie vor 200.000 Jahren
die Arbeitsteilung war. In späteren Kulturen ist durchaus nachgewiesen,
dass auch die Frauen jagen gegangen sind.
Aber so sehen viele eben Geschlecht: So war es schon immer. Männer gehen
arbeiten, Frauen bleiben zu Hause und kümmern sich um die Kinder. Mit den
beiden Weltkriegen, besonders dem Zweiten Weltkrieg, änderte sich das.
Während die Männer kämpften, gingen die Frauen arbeiten und bewiesen, dass
sie dazu mehr als fähig waren. Das ließ sich nach Ende des Krieges nicht
einfach wieder zurückdrehen. Es ist absurd, dass unsere Vorstellung von
Geschlecht mit der Steinzeit begründet wird. Wir leben im 21. Jahrhundert.
Wir haben uns weiterentwickelt. Wir können Kindern die Flasche geben.
Ihre These ist, dass toxische Männlichkeit aus Unsicherheit und einer
fehlenden positiven Selbstdefinition heraus entstehe. Der Mann muss nicht
mehr der Geldverdiener sein. Wie könnte denn eine neue Selbstdefinition von
Männlichkeit aussehen?
Vaterschaft könnte das sein. Immer mehr Männer nehmen eine aktive Rolle in
der Erziehung ihrer Kinder ein. Mein zukünftiger Schwager ist gerade erst
Vater geworden. Er war auch derjenige, der unbedingt Kinder haben wollte.
Diese neue Selbstdefinition muss aber nicht nur mit Vaterschaft zu tun
haben.
Das wäre auch etwas ausschließend. Nicht alle wollen oder können Vater sein
…
Du musst kein Vater sein, um ein männliches Vorbild zu sein. Es gibt viele
Männer, die keine Kinder haben, aber im Leben junger Männer präsent sind.
Von vielen Männern in meinem Leben, die nicht mein Vater waren, habe ich
sehr viel gelernt. Etwa von dem Partner meiner Mutter. Er ist sehr groß,
sehr stämmig und eine sehr sensible Seele und Unterstützer von
Frauenrechten. Das hat mir wirklich geholfen: zu sehen, dass du diese
starke, männliche Figur sein kannst und trotzdem kein Arsch sein musst.
In Ihrem Buch und auch in diesem Gespräch ist eine Falle. Sie sprechen
immer wieder von „Männern“ und „Frauen“. So lange wir in den Kategorien
männlich und weiblich denken, werden wir aber wohl nicht aus dieser
Binarität herauskommen.
Ja, ich generalisiere vielleicht. Ich glaube aber, für die meisten Leute
sind diese Begriffe so tief verankert, dass man ihnen nicht entkommen kann.
Es wäre großartig, wenn wir uns davon wegbewegen würden, aber auch da
müssen wir pragmatisch sein. Wir müssen sagen: Du kannst männlich und
sensibel sein. Und danach hoffentlich: Du musst aber auch überhaupt nicht
männlich sein. Es gibt diesen Satz, den wir immer wieder hören: Echte
Männer schlagen keine Frauen. Ich hasse diesen Satz. Denn doch, genau das
tun sie. Aber für manche ist das auch eine Auszeichnung: Ich bin ein echter
Mann, ich schlage keine Frauen. Wie wir da rauskommen, weiß ich leider auch
nicht.
Hier dann mal ein Klischee: Hätte eine Frau Ihr Buch geschrieben, wären die
Fußnoten mindestens viermal so lang, Aussagen wie Ihre über die Steinzeit
wären noch einmal nachrecherchiert worden.
Ich glaube nicht, dass das ein besonders gut geschriebenes Buch ist. Vieles
würde ich heute, ein Jahr später, anders formulieren. Das Buch ist aufgrund
eines Artikels entstanden, der überhaupt erst der zweite Text war, für den
ich Geld bekommen habe. Aber nun habe ich eben ein Buch geschrieben und es
spricht ein paar grundsätzliche Sachen an, wie eine Einleitung. Es soll
dazu einladen, ein bisschen weiter zu lesen. Ich wollte aber nie, dass das
ein akademisches Buch wird. Der Leser, den ich erreichen möchte, ist
keiner, der sich Fußnoten anschaut oder überhaupt Bücher liest.
Vielleicht ist das die Stärke des Buches. Sie erklären, was ein
[2][Cismann] ist und setzen es nicht einfach voraus.
Wir hatten das Buch auch an einige Verleger in den USA geschickt, und eine
der Absagen, die ich bekam, wurde damit begründet, dass das Buch zu
akademisch sei. Da musste ich ziemlich lachen.
Militär und Wehrpflicht spielen im Buch eine große Rolle. Wenn man etwa in
der Armee Angst davor haben muss, hingerichtet zu werden, wenn man im Krieg
seine Gefühle zu sehr zeigt, ist das ein sehr starkes Motiv, Gefühle
zurückzuhalten. Welche Rolle spielt das Militär noch heute?
Es gibt keine Wehrpflicht mehr. Die Männer, die sich jetzt für das Militär
interessieren und freiwillig melden, sind oft ganz bestimmte Typen. Häufig
sind das Personen, die Probleme mit ihrer Männlichkeit haben. Sie sind
getrieben von der Idee, dass das Militär sehr maskulin ist und es sie
selbst maskuliner macht. Das sind mitunter nicht die ausgeglichensten
Leute. Deshalb müssen wir uns die militärische Ausbildung anschauen. Wir
müssen den Rekruten beibringen, mit Gefühlen umzugehen. Wir müssen besser
mit den psychischen Belastungen von Soldaten umgehen, uns die
Gesundheitsvorsorge für Veteranen anschauen. So viele Briten kamen nach dem
Ersten und Zweiten Weltkrieg traumatisiert zurück und wurden damit alleine
gelassen. Die Traumata von damals tragen sich nun über Generationen
hinweg.
Wäre Demilitarisierung nicht die beste Lösung?
Das wäre großartig, aber ganz realistisch: Ich glaube nicht, dass das in
nächster Zeit passieren wird. Da muss man pragmatisch sein. Das Militär
wird weiter existieren, es wird weiter eine bestimmte Art Mann anziehen –
also müssen wir sicherstellen, dass diese Männer die Ausbildung kriegen,
die sie brauchen. Wir müssen jungen Männern Gefühle beibringen.
Damit hatten Sie als Jugendlicher Probleme. Sie haben sich die Oberarme
geritzt. Ihr Buch heißt „Boys don ’t cry“ – können Sie denn weinen?
Ich habe damit noch immer Probleme. Ich würde gerne öfter weinen. Meine
Verlobte weint immer und versucht, mich auch dazu zu bringen. Aber so bin
ich nun mal aufgewachsen. Es geht auch nicht unbedingt ums Weinen, sondern
um die Funktion: Gefühle freizusetzen. Und das bekomme ich jetzt auf jeden
Fall besser hin als vor fünf Jahren.
„Boys don’t cry“, Nautilus Flugschrift, 232 Seiten, 16,90 Euro, VÖ 1.3.
26 Feb 2017
## LINKS
[1] https://www.vice.com/en_us/article/a-stiff-upper-lip-is-killing-british-men…
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Cisgender
## AUTOREN
Katrin Gottschalk
Ulrich Gutmair
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