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# taz.de -- Die Wahrheit: Wir Allrounder
> Früher gab es in jedem Beruf ganz genau eine doofe Nuss, die ihn ausübte.
> Diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei.
Es ist Dienstagvormittag, wie jede Woche um diese Zeit. Michael Sönker mäht
wie üblich den Rasen zu seinen Füßen. Für eine halbe Stunde schiebt der
Postbote den Rasenmäher durch den Garten von Frau Teuteberg, schneidet die
Sträucher und gießt die Blumen und Topfpflanzen in der Wohnung der alten
Dame, bevor er wieder seine Runde in Barlissen, einem Dorf bei Göttingen,
aufnimmt. „Das ist eine schöne Abwechslung“, freut er sich, „nicht nur d…
ganzen Tag Briefe sortieren, lesen und austragen!“
Ähnlich sieht das Ulf Klebe, der jeden Sonnabend, den der Herrgott wachsen
lässt, in dem Erzgebirgsdorf Limbach-Oberfrohna die Post austrägt. „Das ist
eine schöne Abwechslung“, freut sich der Gärtner, der sonst auf dem
Dorffriedhof arbeitet, „nicht nur die ganze Woche Rasen mähen, Sträucher
schneiden und Skelette nach Ablauf der Ruhezeit ausgraben, um sie von
irgendeiner Firma für Tierbedarf als Hundeknochen verwerten zu lassen!“
Michael Sönker und Ulf Klebe sind keine dürren Einzelfälle. Immer mehr
Betriebe müssen ihre Mitarbeiter für sachfremde Zusatzdienste zu Markte
tragen, um die rückläufige Nachfrage nach den eigenen Produkten oder
Leistungen auszugleichen. Astrid Grigoleit, Bezirksleiterin
Südniedersachsen der Deutschen Post, unterstreicht, dass der prima
Zustellservice anders nicht zu retten sei, weil jedes Jahr weniger frische
Briefe auszutragen sind.
## Extraservice großgeschrieben
Pastorin Angela Garske in Limbach-Oberfrohna gibt ihr recht. „Das
Erziehungsideal in der DDR war die allseitig steil entwickelte
sozialistische Persönlichkeit“, gesteht die einstige Oppositionelle und
kommt nicht umhin, die guten Seiten des damaligen Bildungssystems
herauszustreichen: „Jetzt, im Kapitalismus, ernten wir die real
existierenden Früchte des Sozialismus. Ohne den Extraservice unserer
Gärtnerei müsste ich aus Kostengründen den Friedhof dichtmachen, und wo
sollten die Alten und Kranken dann hin?“
Auch Zeitungszustellerin Helga Jansen auf Sylt übernimmt auf Wunsch ihres
Brötchengebers zusätzliche Aufträge. „Das sichert meinen Arbeitsplatz“,
sagt die flexible Fünfzigjährige beglückt und stellt eine dicke Kiste mit
Milch, Croissants, Butter und Saft vor die Haustür ihres Verlegers, bevor
die pfiffige Allrounderin einige Villen weiter verschwindet, um das
Frühstück zuzubereiten für den Königspudel einer Millionenerbin, die über
Nacht auf irgendeiner Party stecken geblieben ist.
Nachdem die patente Mehrfachbegabung im Nachbarhaus einige kleinere
Reparaturen ausgeführt hat, sammelt die vielseitig interessierte
Altenpflegerin den dement durch Kampen irrenden greisen Besitzer ein,
kleidet ihn erst mal an, zurrt ihn in seinem Salon fest und legt ihm
fürsorglich den Sylter Anzeiger auf den Tisch, denn Zeitungszustellerin ist
Helga Jansen auch.
## All in one
„Früher gab es für jeden Beruf genau eine doofe Nuss, die ihn ausübte“,
erklärt Max Höhner von einer privaten Agentur für Auftragsvermittlung, der
die neue Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt mit begeisterten Augen verfolgt.
„Das neue, total tolle Zauberwort heißt All-in-One!“, ruft er euphorisiert
und bedient den Drucker, um einen per Wlan empfangenen Scan sofort per
Rundmail an notleidende Unternehmen zu faxen.
Auftragsvermittler Höhner selbst übt nur diesen einen Beruf aus. Genug zu
tun hat er, denn es sind keineswegs nur abgerüstete Senioren, die die
Zusatzangebote der Firmen buchen. Oft sind es die erwachsenen Kinder, die
etwa jemanden suchen, der mit den Eltern Gassi geht. Auch gibt es viele
junge Leute, die ihre Hände nicht vom Smartphone lassen können und einen
Service brauchen, der sie wäscht, füttert und den Unrat abführt.
Höhner kennt sie alle: Bäcker, die abends ihren Backofen einem Krematorium
zur Verfügung stellen. Zeugen Jehovas, die bei ihren Hausbesuchen den
Leuten den Puls fühlen und den Blutdruck messen. Frisösen und in Mani- wie
Pediküre bewanderte Kosmetikerinnen, die kleinere chirurgische Eingriffe an
Händen, Füßen oder Kopf vornehmen und besonders schwere Fälle an einen
Spezialisten überweisen, der eine medizinische Zusatzausbildung hat.
Die Krankenkassen unterstützen dieses kostensparende Modell. „Auch wir
Gewerkschafter befürworten im stolzen Interesse der Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen solche Zusatzdienste“, erklärt Till Fahrenheit. Der
engagierte Sozialdemokrat ist Vertrauensmann beim DGB und verdient sich ein
schönes Zubrot, indem er morgens kurz vor dem Aufstehen die Büros des
Gewerkschaftshauses in Bochum feucht durchwischt. Seine Frau arbeitet bei
der Müllverbrennung und schiebt montags und mittwochs elf Uhr eine
einstündige Vorlesung über altisländische Grammatik ein. Die Universität
hat sie gebucht, weil der eingeplante Privatdozent an diesen Tagen die
städtischen Latrinen leert, was besser bezahlt wird.
Aber das ist ein anderes Thema.
8 Feb 2017
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Beruf
Psychologie
Comic
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Satire
Sprachkritik
Rhetorik
Sprache
Mittelschicht
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