# taz.de -- Geflüchtete und Ressentiments: Der Riss durch Deutschland | |
> Mit den Geflüchteten kamen die Ressentiments. Der aufkeimende Hass | |
> vergiftet auch das soziale Umfeld und zerstört Familien. | |
Bild: Eine Asylbewerberunterkunft in Ludwigshafen am Rhein | |
Lüneburg/Hamburg taz | Als das Schuljahr im Spätsommer 2015 in beginnt, | |
fragt die Lehrerin, ob es ein aktuelles Thema gäbe, über das die | |
SchülerInnen mit ihr sprechen wollten. Marc Fleischmann hat gerade erst in | |
die elfte Klasse des beruflichen Gymnasiums 1 in Lüneburg gewechselt. Er | |
meldet sich. „Über die Flüchtlingskrise sollten wir sprechen“, findet er. | |
Da weiß Marc Fleischmann noch nicht, wie sehr sie ihn selbst treffen wird. | |
Ein gutes Jahr später steht die Herbstsonne über Lüneburg. Marc Fleischmann | |
führt über den Schulhof, einmal um das Backsteingebäude mit dem Flachdach | |
herum. Hinter der Schule steht die Turnhalle. „Hier waren die Flüchtlinge | |
untergebracht“, erzählt Fleischmann und deutet auf einen modernen Bau, | |
keine hundert Meter vom Eingang der Schule entfernt. | |
Marc Fleischmann hat seine kurzen Haare aufgestellt. Während er über den | |
vergangenen Herbst spricht, blickt er ein wenig schüchtern durch seine | |
schwarze Brille. „Da gab es schnell die ersten Gerüchte. Dass die | |
Flüchtlinge beim Kiosk klauen oder Mädchen angrabschen“, erinnert er sich. | |
Auch in Fleischmanns Klasse gibt es Vorurteile. Mehr noch, einige seiner | |
MitschülerInnen werden ausfällig, machen sich lustig. Für ihn ist das | |
schwer auszuhalten. Die Ressentiments, die dummen Sprüche, die durch den | |
Klassenraum schallen, sie gelten den Geflüchteten in der Turnhalle. Doch | |
vor allem treffen sie ihn. Er widerspricht. Und wird gemobbt. Der Gang zur | |
Schule wird für ihn zunehmend zur Qual. | |
## Es geht ein Riss durch Deutschland | |
Dass Marc Fleischmann Rassismus nicht egal ist, merkt man sofort. Der | |
Achtzehnjährige engagiert sich in der Grünen Jugend in Uelzen, wo er wohnt. | |
Wenn er von Politik spricht, verschwindet das Jungenhafte an ihm. Als | |
„progressiven Linken“ versteht er sich. Kretschmann, Palmer, das sind für | |
ihn „Ultra-Realos“. „Ob die überhaupt noch grün sind – na ja.“ Sein | |
Vokabular ist nicht das eines Schülers. Der vorsichtige Gang und die | |
Winterschuhe mit Klettverschluss wirken wie Understatement. | |
Es geht ein Riss durch Deutschland. Er zeigt sich im öffentlichen Diskurs, | |
der in Fernsehtalkshows oft vor allem der Darbietung persönlicher | |
Anfeindungen dient. Man sieht den Riss bei den Land- und bald auch den | |
Bundestagswahlen, bei denen die AfD immer mehr Zustimmung erfährt. | |
Vielleicht aber, das wird bei der Recherche schnell klar, ist der Riss | |
abseits der Öffentlichkeit noch tiefer. Viele, die sich engagieren, | |
berichten, dass die eigene Familie oder Freundschaften zerbrechen. Oder | |
eben die Schulklasse: je näher die Menschen, desto tiefer die Spaltung. | |
Schon deshalb lohnt der Blick auf den Alltag derer, an denen das | |
Weltgeschehen nicht unbeachtet vorbeirast, die sich in dieser Zeit wie Marc | |
Fleischmann engagieren, demonstrieren oder einfach das Geschehen nicht | |
hinnehmen wollen. | |
## „Asylantrag abgelehnt!“ | |
In Lüneburg sind es von Fleischmanns Schule nur zehn Minuten bis in die | |
Altstadt. Er geht an den malerischen Altbauten vorbei, kramt sein Telefon | |
hervor und zeigt Screenshots aus der WhatsApp-Gruppe seiner Klasse aus dem | |
letzten Winter. Ein paar Hänseleien gegen ihn. Eine Bildmontage, auf der | |
Angela Merkel im Kopftuch zwischen den Penissen zweier dunkelhäutiger | |
Männer kniet. Dann ein Schwarz-Weiß-Bild. Es zeigt einen | |
Wehrmachtssoldaten, der auf Menschen schießt, die vor ihm auf der Straße | |
liegen. „Asylantrag abgelehnt“, steht darunter. | |
„Ich wollte nicht juristisch dagegen vorgehen, dann wäre ich ja noch mehr | |
an den Rand gedrängt worden“, erzählt Marc Fleischmann. „Die haben vor mir | |
Witze über Flüchtlinge gemacht, um mich zu provozieren.“ Zu Beginn des | |
Schuljahrs fühlte er sich noch gut aufgehoben, mit zwei, drei SchülerInnen | |
freundete er sich gar an. Doch irgendwann wenden auch die sich von ihm ab. | |
„Da war ein Mädchen dabei, dessen Mutter von Hartz IV lebt“, erinnert sich | |
Fleischmann. „Als die Flüchtlinge kamen, hatte sie Angst, dass sie noch | |
weniger Geld haben werden. Sie hat mich nicht verstanden, und der Kontakt | |
brach ab.“ | |
Kurz vor Weihnachten trifft sich die Klasse zum Frühstück. Er schlägt vor, | |
die übrigen Brötchen in die Turnhalle zu bringen. Ein Klassenkamerad lacht | |
ihn aus und schmeißt die Brötchen in den Müll: „Die kriegen ja alles in den | |
Arsch gesteckt.“ | |
Das ist zu viel für ihn. Marc Fleischmann verlässt aufgewühlt den | |
Unterricht. Die Weihnachtsferien verbringt er in einer Klinik. Im Anschluss | |
müht er sich durch den Rest des Schuljahrs. Seine MitschülerInnen sollen | |
nicht von der Depression erfahren. Wenn diskutiert wird, mischt er sich | |
nicht mehr so oft ein, das haben ihm auch die Ärzte geraten. Heute ist das | |
Thema weniger präsent, ein Teil der Klasse hat das Schuljahr nicht | |
geschafft, und so fällt es ihm wieder leichter herzukommen: „Ich weiß, dass | |
die mich nicht mögen, und die wissen, dass ich sie nicht mag.“ | |
Ein gutes Jahr wird Marc Fleischmann noch zur Schule gehen. Doch er denkt | |
schon weit darüber hinaus. „Wie kann man diesen Hass eindämmen? Wie können | |
wir als Gesellschaft wieder zusammenfinden?“ Das sind die Fragen, die sich | |
Fleischmann an diesem Vormittag in Lüneburg stellt. Und er meint, die | |
Schuldigen für den Hass zu kennen: „Wir müssen was gegen die Leute machen, | |
die diese Stimmung verbreiten.“ Ob er sich in Zukunft weiter engagieren, | |
nach seinem Volkswirtschaftsstudium vielleicht Politiker werden möchte, | |
hätte man ihn eigentlich nicht fragen müssen. | |
## Die Hetze aus der eigenen Familie | |
Ein paar Kilometer nördlich, in Hamburg, betritt Tania Ellinghaus ein | |
portugiesisches Café. Den Latte Macchiato bringt der Besitzer ungefragt. | |
Sie ist Ende vierzig, sie trägt einen Pony, spricht selbstbewusst und viel. | |
Auch Ellinghaus lebt seit einiger Zeit nahe am Riss. Eigentlich verstand | |
sie sich gut mit ihrer älteren Schwester. „Herzlich war das Verhältnis zu | |
ihr“, erzählt sie. Doch als letzten Sommer immer mehr Geflüchtete nach | |
Deutschland kommen, beginnt ihre Schwester Hassbotschaften und Artikel des | |
neurechten Compact-Magazins zu posten. | |
„Bemerkt hat das erst meine Tochter, die rief mich schockiert an, und dann | |
haben wir beraten, was wir tun können“, berichtet Ellinghaus. Sie selbst | |
hilft in der Flüchtlingsarbeit hier und da aus, steht auf einer Warteliste | |
für die Aufnahme minderjähriger Geflüchteter. Ihre Tochter, die sie allein | |
großgezogen hat, studiert in Süddeutschland und war selbst an der | |
österreichischen Grenze, um Geflüchteten zu helfen. Die Hetze aus der | |
eigenen Familie trifft die beiden. Ellinghaus’ Tochter schreibt einen Brief | |
an ihre Tante und erntet nur Unverständnis und Häme. | |
## Die verstoßene Schwester | |
Wie ihr geht es vielen Menschen, die sich in der Flüchtlingsfrage | |
engagieren oder äußern. Doch bei Tania Ellinghaus ist es bereits das zweite | |
Mal, dass sie sich von ihrer Schwester verstoßen fühlt. Die beiden sind in | |
der DDR aufgewachsen. Ellinghaus jedoch flüchtete 1988 nach Hamburg. Gegen | |
die gerade ausgelernte Laborantin wurde ein Berufsverbot verhängt, nachdem | |
sie sich weigerte für die Stasi zu spionieren. Für ihre Schwester und ihren | |
Schwager, der bei der Stasi arbeitete, war das Verrat. Jahrelang hatte | |
Ellinghaus keinen Kontakt zu ihrer Schwester. Nur langsam besserte sich das | |
Verhältnis zu den beiden. „Das Krasse ist ja“, meint Ellinghaus, „dass s… | |
den Flüchtlingen heute dasselbe vorwirft, wie mir damals: dass wir unser | |
Land und die Familie im Stich lassen.“ | |
Mit ihren Eltern kann Ellinghaus immerhin noch sprechen, wenn auch nicht | |
über Politik. Wenn sie von dem Riss erzählt, der durch ihre Familie geht, | |
bleibt Ellinghaus nie lange beim Thema. Sie schweift schnell ab, sucht in | |
langen Monologen nach Ursachen für den Hass ihrer Schwester. | |
Wieso sind wir so unterschiedlich geworden? Da ist die Wendezeit, die ihrer | |
Schwester, der technischen Zeichnerin, und ihrem Schwager, dem | |
Stasioffizier, den Beruf kostete. Davon haben sie sich nie wirklich erholt. | |
Ist da ein Bruch zwischen Ost und West? Wie kommen wir wieder zueinander? | |
Eigentlich heißt Tania Ellinghaus gar nicht so. Auch die Namen ihrer | |
Tochter und ihrer Schwester sollen hier keine Rolle spielen. Denn sie will | |
nicht noch mehr rütteln an der Verbindung, die da vielleicht noch irgendwo | |
ist. Ellinghaus würde gern wieder ein normales, ja überhaupt ein Verhältnis | |
zu ihrer Schwester aufbauen. Das Gefühl des Verstoßenseins schmerzt. „Das | |
damals verstehe ich noch. Doch dass sie uns jetzt verstößt, heißt, dass sie | |
uns in unserem freien Handeln beschneidet“, sagt sie. „Es ist meine Energie | |
und mein Geld. Das kann ich vergeuden wie ich will.“ Tania Ellinghaus | |
klingt fast ein wenig verzweifelt. | |
Letztens wurde sie am Knie operiert. Ihre Tochter war gerade mit dem Freund | |
zu Besuch. Ellinghaus erinnert sich: „Im Krankenhaus habe ich gesagt, meine | |
Familie holt mich ab. Da habe ich gemerkt: Ja, krass, die beiden sind jetzt | |
meine Familie. Meine Tochter und ihr Freund.“ | |
12 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Kristof Botka | |
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