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# taz.de -- Voyeurismus im Netz: Finale einer Serie
> Die Islamfeinde von Legida marschieren nicht mehr. Die Gegenproteste
> haben Wirkung gezeigt. Unser Autor hat zugeschaut – und jetzt ein
> schlechtes Gewissen.
Bild: Demonstranten frieren für die Nächstenliebe
LEIPZIG taz | „Game of Thrones“ finde ich albern. „Tatort“-Abende werden
für mich auf ewig ein Mysterium bleiben. Die letzte Serie, die ich intensiv
verfolgt habe, war „Dragon Ball“ im Nachmittagsprogramm von RTL 2. Damals
war ich zwölf. Doch wo andere Binge Watching auf Netflix betreiben, gönn
ich mir Livestreams und Twitterfeeds zu rechten Aufmärschen. Und am Montag
lief endlich das große Serienfinale von Legida.
Wenig überraschend kündigten die Organisatoren am Ende des Abends an, dass
die Show nach zwei Jahren, vielen Streitigkeiten, Neubesetzungen im Cast
und dem eingebrochenen Interesse der Öffentlichkeit eingestellt werden
soll. Aber vorher fackelte man nochmal ein Feuerwerk der populistischen
Abendunterhaltung ab. Alles wurde geboten: Musik, Pathos und sogar ein paar
Pferdchen.
17:55 Viele Hundert gerade am #Connewitz er Kreuz Richtung Innenstadt
#Leipzig #blockruf #nolegida #le0901 (von @MyConnewitz)
Als erfahrener Fan ist bei mir am Küchentisch natürlich alles vorbereitet:
eine Tüte geröstete Brotchips, Geschmacksrichtung Tomate-Olive, Pyjamahose,
Bettdecke und ein Platz direkt an der Heizung. Immerhin ist es kalt
draußen.
Auf dem Browser meines Laptops sind 19 Twitterfenster geöffnet: #nolegida
#le0901 #Legida. Ein Fenster für die linke Landtagsabgeordnete Juliane
Nagel. Ein Fenster für den Vorsitzenden der sächsischen Grünen Jürgen
Kasek. Beide gehören zur Stammbesetzung bei antirassistischen
Veranstaltungen in Leipzig.
Im Hintergrund läuft über YouTube der Livestream von Ruptly – die Berliner
TV-Agentur des russischen Auslandsfernsehsenders RT. Auch sie gehört zum
Regular Cast für Gida-Veranstaltungen. Gerade begleitet Ruptly den Zug der
Gegendemonstranten durch Connewitz. Sirenen und ein fröhliches „Alerta,
Alerta, Antifascista“ kriechen aus meinen Lautsprechern und machen meine
Küche zum Demonstrationsschauplatz.
Irgendwann kommt meine Mitbewohnerin irritiert zu mir ins Zimmer: „Hörst du
das? Sind das die Legidaleute da draußen? Ich sehe gar nichts. Warum kommen
die denn bei uns lang?“ Onlinestreaming – mittendrin statt nur dabei.
18:57 Pferdestaffel und Wasserwerfer Richtung Waldplatz. Sieht ja nach
Deeskalationsstrategie aus m( #le0901 #nolegida (von @Volk11elf)
Der Legidazug ist im Waldstraßenviertel angekommen. Anwohner haben Kerzen
auf die Fenstersimse ihrer Altbauwohnungen gestellt. Als gemeinschaftliches
Zeichen des Gegenprotests lassen sie den vierten Satz aus Beethovens 9.
Sinfonie im ganzen Viertel erschallen – die Ode an die Freude.
Über die Facebook-Seite von Legida bin ich per Videostream mitten im
Demonstrationszug. Meistens ist fast nur Schwärze zu sehen. Straßenlaternen
färben die Hausfassaden orange. Einige der Anwohner stehen an ihren
Fenstern und lassen Transparente herunterhängen. Um mich herum ruft ihnen
der Legida-Chor entgegen: „Spring! Spring! Spring! Spring!“
Ich bin bei ihnen. Ich bin stimmlos und werde trotzdem zum Teil des Chors
gemacht. Später wird Arndt Hohnstädter vom Organisationsteam hinter Legida
stolz verkünden, man habe am Abend 80.000 Menschen über den
Facebook-Auftritt erreicht.
Wirkliche Bedeutung hat diese Zahl keine. Sie ist zusammengerechnet aus dem
Resultat von Shares, Kommentaren und Likes. Jedes Auftauchen auf einem
Facebook-News-Feed wird dazugezählt. Man muss die Nachrichten nur
überscrollen und kann bereits instrumentalisiert werden.
20:13 Auch an Feuerbach- und Fregestraße lautstarker Gegenprotest und
Schneebälle auf #Legida #le0901 (@coverage_LE)
Eigentlich sollte ich da draußen sein, im Schnee stehen und dagegenhalten,
Grundwerte verteidigen, frieren, zumindest aus politischem Anstand. Ich
sollte mich für meinen Voyeurismus schämen. Ich bin ein schlechter Linker,
vielleicht auch ein schlechter Mensch.
Der manchmal allumfassend scheinende Blick von Twitter und anderen sozialen
Medien hat Leute wie mich in Erklärungsnot gebracht. Unmenschlichkeit muss
nicht länger in mühsamer Arbeit aufgedeckt werden. Sie will geteilt werden.
Die Unmenschlichkeit will, dass ich sie sehe. Sich mutwillig nicht zu
positionieren wird da zu einer immer aufwendigeren Gedankenleistung.
Wahrscheinlich ist diese Beobachtung Unsinn – wie alles, das unter dem
Einfluss von zu viel Twitter entsteht. Allerdings gibt es Schlimmeres, als
unter fadenscheinigen Herleitungen humanistische Ambitionen zu entwickeln
und den eigenen Zynismus zu überwinden.
21:33 Legida sagt, dass sie Sicherheitsbehörden nicht mehr mit
wöchentlichen oder monatlichen Demos belasten wollen. #le0901 Klingt nach
letzter Legida (von @TI_Wag)
Vorbei. Die 19 Twitterfenster werden geschlossen, die Livestreams, der
Newsticker. Ich gehe ins Zimmer meiner Mitbewohnerin. Sie liegt im Bett,
hat ihren Laptop auf dem Bauch: „Der Vizepräsident hat gerade die Geliebte
des US-Präsidenten entführt und will ihn zwingen, einen Krieg mit Angola
anzufangen“, sagt sie über ihre Serie. „Und wie ist es bei dir
ausgegangen?“ Legida hört auf mit den Demos. Die Show ist zu Ende.
15 Jan 2017
## AUTOREN
Markus Lücker
## TAGS
Schwerpunkt taz Leipzig
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