# taz.de -- Bochum nach dem Ende des Opelwerks: Für immer Opelaner | |
> Vor zwei Jahren lief der letzte Opel vom Band, das Werk in Bochum ist | |
> abgerissen. Nun versucht die Stadt, wieder attraktiver zu werden. Aber | |
> wie? | |
Bild: Wo früher das Werk stand, findet man heute braune Erde, Ruinen, Schrott … | |
BOCHUM taz | Weiße freistehende Container, zwei Herren stehen davor und | |
schauen herüber. Hohe Bäume schirmen das Gelände ab. Ein Hinweis auf einem | |
Schild, hier darf man keine Fotos machen. Michael Müller, einst Opelaner, | |
55, lichtes braunes Haar, steht an der Stelle, an der am Montag vor zwei | |
Jahren der letzte Zafira vom Band lief. Dort, wo in Bochum früher die | |
Opel-Neuwagen parkten, steht heute ein Containerpark für 400 Flüchtlinge. | |
„Die Stadt hat sich verändert“, sagt Michael Müller. | |
Bochum, das war Opel, Autobau, ein Herzstück des Ruhrgebiets. In Bestzeiten | |
arbeiteten in dem Werk 22.000 Menschen, am Ende waren es gerade 3.600. | |
Doch die Geschichte endete nicht ganz. Von den verbliebenen Mitarbeitern | |
überführte man 2.600 in eine Transfergesellschaft, die nun nach zwei Jahren | |
Befristung enden soll. Die Idee: Statt in die Arbeitslosigkeit entlassen zu | |
werden, sollten die Arbeiter weitergebildet werden, sie bekamen 75 Prozent | |
ihres alten Gehalts. Die Schirmherrschaft übernahm der TÜV Nord. Man sollte | |
möglichst sanft zurück auf den Arbeitsmarkt. Die ernüchternde Bilanz: | |
Gerade mal 900 konnten nach Auskunft des TÜVs Nord in neue Jobs vermittelt | |
werden, 750 sind in einer Pensionsbrücke, weil sie keine Arbeit gefunden | |
haben, die restlichen rund 1.100 Menschen werden zum Ende des Jahres | |
arbeitslos. | |
Die IG Metall setzt sich derzeit für ein drittes Jahr für soziale | |
Härtefälle ein, wie sie es im Sozialtarifvertrag vereinbart hatten. Was die | |
Kriterien für diese Fälle sind, wird derzeit noch mit Opel verhandelt. | |
## 200 Fußballfelder | |
Michael Müller steht am Tor 4 des Werks I. Die Sonne scheint, | |
Novemberkälte. Die Bagger brummen, auf der anderen Seite der Straße stehen | |
kleine Einfamilienhäuser und ein gläsernes McDonald’s. Vor Michael Müller, | |
hinter einem hohen Maschendrahtzaun des Tors: das Meer. Braune Erde, | |
Schrott, Ruinen. 200 Fußballfelder passen auf das Abrissgelände; es ist | |
eines der größten in Deutschland. | |
Michael Müller blickt auf. Weiter Blick auf einen Ort der Vergangenheit, an | |
dem nichts mehr an jene erinnert. Dreißig Jahre lang arbeitete er hier, 15 | |
Jahre lang fertigte er Getriebe, 15 Jahre lang war er freigestellter | |
Betriebsrat. „Das war mein Leben“, er zeigt mit dem Daumen auf das Gelände. | |
Zehn Jahre lang kämpften Michael Müller und seine Leute nicht nur für den | |
Erhalt der Fabrikhallen und ihre Arbeitsplätze, vielmehr auch für einen | |
Platz im Leben, sagt er. „Wir in Bochum haben das Wort ‚Opelaner‘ erst | |
erfunden.“ Man identifizierte sich mit dem Unternehmen. | |
Ein alter Herr mit Schiebermütze steht zehn Meter entfernt an Tor 4, schaut | |
ebenfalls auf das Schrottmeer, die Hände in der Jackentasche. Er lauscht | |
dem Gespräch und fragt: „Sie waren auch bei Opel?“ Michael Müller nickt. | |
Die beiden stellen sich mit ihrer Stammnummer vor, sie waren wohl im selben | |
Gebäude unterwegs, wechseln sofort ins Du. | |
## Zehn Jahre in der Schwebe | |
„Ich war der 420. Mitarbeiter im Werk“, sagt Gerhardt Hornberg. Der | |
82-Jährige gehörte zu den Ersten, als das Werk 1962 in Bochum eröffnete. | |
„Das war die Rettung für die Stadt, in der gerade die alten Zechen | |
schlossen.“ Strukturwandel schon damals, aber mit Ausweg: Opel. | |
Die beiden tauschen Geschichten aus, Anekdoten. Wie „die Ami-Kollegen von | |
einem Tag auf den anderen abhauten“, während der Kubakrise, weil ihre | |
Frauen zu Hause einen Krieg in Europa fürchteten. Oder die Streiks der | |
„Rabauken aus Bochum“ in den 80ern, bei denen sich die Opel-Arbeiter | |
tagelang in die Wiesen legten. „Wir leben das“, sagen sie, sprechen von | |
„guten Zeiten“. Die Opel-Nostalgie. | |
„Das Volk sind wir“, und „Wir sind Opel“, stand 2004 auf ihren | |
Transparenten. Viele nennen die „roten Tage im Oktober“ jenes Jahres | |
rückblickend den Anfang vom Ende des Opelwerks in Bochum. „Für mich waren | |
das die Tage meines Lebens“, sagt Michael Müller, der damals im Betriebsrat | |
saß. Der Streik kostete das Unternehmen einen zweistelligen | |
Millionenbetrag. Eine Machtdemonstration der Arbeiter. | |
Heute spricht Michael Müller von einem zehnjährigen Angstzustand, der | |
darauf folgte: „Opel war krank. Das wussten wir alle.“ Ab 2004 wurde die | |
Produktion in Bochum nach und nach zurückgefahren. Trotz Rettungsversuchen, | |
Bürgschaften, Versprechen – die Finanzkrise gab dem Mutterkonzern General | |
Motors den Rest. | |
## Die Stammtischklause | |
Davon erzählt auch Norbert Spittka, schmales Gesicht, kleine Augen, | |
akkurater Bart. Der Rentner sitzt gegenüber von Tor 4 in der | |
„Bürger-Klause“, der wohl letzten Kneipe am Gelände, die die | |
Werksschließung überlebt hat. Seit 56 Jahren wird hier hauptsächlich Bier | |
und Schnaps über die Theke gereicht. Holztafeln, Vereinsgläser, Dunkelheit, | |
Zigarettenrauch. | |
Norbert Spittka begrüßt Ausschenkerin Regina Schirmacher. „Ihr wollt zum | |
Rudi?“, fragt die grauhaarige Dame mit dicken Brillengläsern erstaunt. „Vor | |
drei Wochen verstorben.“ Sie zieht die Mundwinkel nach unten und nickt | |
bedächtig. Ihr Mann Rudi Schirmacher bewirtete die Bürger-Klause sein | |
ganzes Leben, noch immer hängt ein großes Bild von ihm mit Cowboyhut in der | |
Kneipe. | |
Schon in den Morgenpausen hoben Hunderte Blaumänner hier die vorgezapften | |
Bierkrüge. „Um die monotone Arbeit ein bisschen erträglicher zu machen“, | |
sagt Norbert Spittka. Bis heute treffen sich hier die Stammtische, die sich | |
von früher kennen. | |
„Ich hab den ganzen Untergang mitgemacht.“ Norbert Spittka arbeitete im | |
Inventar, war als Projektkoordinator für die technische Umstellung | |
zuständig. Mit der kleinen schwarzen Uhr an seinem Handgelenk kann er | |
telefonieren und auch Musik hören, erklärt der Technikbegeisterte am Tresen | |
und drückt zum Vorzeigen kurz drauf. In den 80ern bestellte er die ersten | |
Computer für die Abteilungen. Daraufhin entließ man die Schreibkräfte. So | |
ging es dann immer weiter. „Man kann den technischen Fortschritt ja nicht | |
aufhalten.“ | |
## Der Kümmerer | |
Das sieht auch der ehemalige Betriebsrat Michael Müller ein. Er steht vor | |
dem alten Werk II, rund 5 Kilometer entfernt von Tor 4 des Werks I. Ein | |
Dutzend geparkte Lkws, ein großes graues Fabrikgebäude. Im Jahr 2015 | |
erweiterte Opel hier das Ersatzteilversorgungszentrum, schuf 250 neue | |
Arbeitsplätze. | |
Neben Michael Müller hält ein Opel, ein Herr lässt seine Fensterscheibe | |
runter. „Kann ich Sie nicht noch mal sprechen?“, fragt er. Michael Müller | |
arbeitet heute als beauftragter Projektsekretär der IG Metall. Sein | |
Projekt: Opel, er ist ein „Kümmerer“ für Ex-Opelaner. | |
„In meinen Beratungsgesprächen höre ich alles“, sagt Müller. Die | |
überwiegend männlichen Familienväter werden vielfach depressiv, auch die | |
Spätfolgen der schweren Arbeit machen sich bemerkbar: Bandscheibenschaden, | |
sogar Krebs. „Ihnen fehlt es vor allem an Struktur“, erklärt Müller. Zu | |
Hause könnten sie einfach nichts so richtig mit sich anfangen. | |
## Fehlende Orte der Integration | |
„Nur wenige haben es wirklich geschafft.“ Auch für jene, die einen | |
Arbeitsplatz gefunden haben, verschlechterten sich meist die Konditionen. | |
Sie sind heute Leiharbeiter, haben befristete Verträge, bekommen teilweise | |
nur den halben Stundenlohn, den sie bei Opel bekommen haben. Müllers | |
eigener Arbeitsvertrag ist bis Sommer nächsten Jahres befristet. „Sie haben | |
nicht Angst vor dem Abstieg – sie sind abgestiegen.“ | |
Immer mal wieder bekommt Michael Müller dabei auch von Einzelnen zu hören, | |
was ihm selbst Kummer bereitet. „Für die Flüchtlinge machen die alles, für | |
uns nichts.“ Er antworte dann immer, man solle nicht auf die Schwächeren | |
schauen, sondern auf die Gehälter der „Bosse“. „14,4 Millionen Euro | |
verdient Daimler-Chef Dieter Zetsche.“ Da kämen die meisten ins Grübeln. | |
Die Diskussion über Abgehängte will er nicht hören, man solle sie nicht | |
alle in einen Topf werfen. | |
Gegenüber von Werk II stand früher ein Hochhaus, erzählt Müller, „da haben | |
die Gastarbeiter drin gewohnt“. Wenn gestreikt wurde, gab es keinen | |
Unterschied. „Das Werk war auch Integrationsort. Wir sind alle Arbeiter.“ | |
Solche Orte fehlen jetzt, findet er. | |
## Ein alter Manta, das wär’s | |
Norbert Spittka trinkt einen Kaffee in der Kneipe der Opel-Stammtische. Am | |
3. März 2016 veröffentlichte der Rentner in dem Bürgerforum „Lokalkompass�… | |
einen Artikel: Er rechnete vor, was eine Flüchtlingsfamilie für Geld | |
bekommt, und schrieb, er denke darüber nach, der AfD beizutreten. Der | |
Alt-Linke Spittka konnte von alten Freunden umgestimmt werden – die AfD sei | |
der falsche Weg für ihn. Heute rudert er zurück: „Ich wollte die AfD nur | |
provozieren.“ | |
Bei einer Bildungsreise nach Berlin überzeugte ihn die | |
Bundestagsabgeordnete Michelle Münterfering von einem Eintritt in die SPD, | |
wo er sich nun engagiert. „Die AfD benennt ja nur Probleme, aber bietet | |
keine Antworten.“ | |
Auch für Bochum soll es Lösungen geben. Auf dem alten Gelände wird im | |
kommenden Jahr ein DHL-Packzentrum entstehen, auch die Ruhr-Universität | |
will hier bauen. Die Bochum Perspektive 2022 GmbH vermarktet das alte | |
Opelgelände, erst kürzlich siedelte sich wieder ein neues Unternehmen an. | |
Für jüngere Generationen soll Bochum attraktiver werden, doch | |
Industriearbeitsplätze werden wohl nicht in die Stadt zurückkehren, den | |
ehemaligen Opelanern fehlt die Perspektive. Michael Müller fordert deshalb | |
Projekte und Ideen für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose. | |
Für Norbert Spittka spielt das keine Rolle mehr. Der Rentner sitzt an einem | |
Schreibtisch, über den er ein Plakat von Opel gehängt hat. Von hier aus | |
steuerte er über viele Jahre ein Opelforum im Internet, das zeitweise 600 | |
Besucher am Tag zählte. Er beschäftigt sich viel mit Oldtimern. „Ein alter | |
Manta, das wär’s.“ In seinem Bücherregal stehen Figuren von Mao Zedong und | |
Lenin. „Von damals.“ | |
Bei seinem letzten Stammtisch, den er organisierte, kamen nur sechs seiner | |
alten Kollegen: „Die haben wohl langsam keine Lust mehr auf Opel.“ | |
6 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Timo Lehmann | |
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