| # taz.de -- Computerunterstützung im Schach: Ein sehr komplexes Memory | |
| > Nicht nur die Finalisten der Schach-WM bedienen sich der Hilfe von | |
| > Computer-Datenbanken. Diese haben das Spiel berechenbarer gemacht. | |
| Bild: Computer gegen Mensch – hier durchexerziert mit dem Chessbase-basierten… | |
| Spannung schon bei den ersten Zügen? Viele Internetzuschauer klicken sich | |
| erst in die laufende WM-Partie zwischen Magnus Carlsen und Sergei Karjakin | |
| ein, wenn die Eröffnungsphase abgeschlossen ist. Die Fans kommen sich kaum | |
| wie in der gerade in den Kinos laufenden Dokumentation „Magnus“ vor, | |
| sondern eher wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Alles schon | |
| dagewesen! | |
| Für Runde vier in New York spuckt eine Onlinedatenbank nach dem zehnten | |
| weißen Zug noch 1.756 Partien aus, die bis dahin genauso gespielt wurden. | |
| Die siebte WM-Begegnung, die am Sonntagabend mit einem erneuten Remis zum | |
| Zwischenstand von 3,5:3,5 endete, hatte bis zum zehnten Zug 187 Vorläufer. | |
| Im Vorfeld der Partie hatten die Sekundanten um den dänischen | |
| Theorie-Experten Peter Heine Nielsen ihrem Chef Carlsen für diese Begegnung | |
| ein Abspiel empfohlen, das bislang nur neun Spieler erprobten. Die bereits | |
| 1925 von Savielly Tartakower in Paris am Brett ersonnene Variante prüften | |
| Nielsen und Co. mit ihren Schachprogrammen auf Herz und Nieren. Erkennen | |
| die Rechner keine Nachteile, kann Carlsen die wasserdichte Eröffnung gegen | |
| Karjakin anwenden. Der Russe versucht natürlich umgekehrt genauso mit | |
| seinen großmeisterlichen Helfern, den Norweger zu überraschen. | |
| Schach hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert enorm gewandelt. Der | |
| Hamburger Software-Guru Matthias Wüllenweber erfand Ende der 80er Jahre die | |
| Datenbank „Chessbase“. Vor wenigen Tagen kam die 14. Version auf den Markt. | |
| Kunden haben damit Zugriff auf rund acht Millionen relevante Partien. Davon | |
| wurden 4,1 Millionen mit dem Königsbauern-Zug nach e4 eröffnet. | |
| Nicht nur Carlsen ist mit seinen 1.890 verzeichneten Partien „gläsern“. | |
| Auch Amateure sind leichter ausrechenbar. „Chessbase“ erstellt auf | |
| Knopfdruck ein Eröffnungsdossier. Selbst von Vater Carlsen, Henrik, finden | |
| sich 164 Partien in der Datenbank. So gab der starke Amateur 2007 gegen | |
| seinen 16-jährigen Sohn bei der Arctic Chess Challenge im heimischen Tromsö | |
| nach 37 Zügen auf. | |
| ## Meister des Lavierens | |
| Spitzenschach ist inzwischen ein Kampf Computer gegen Computer. Mehrere | |
| Programme laufen rund um die Uhr und prüfen Varianten, die die Großmeister | |
| später am Brett nur noch memorieren müssen – allerdings ein äußerst | |
| komplexes „Memory“, denn Millionen von Zügen gilt es abzuspeichern. | |
| Angeblich soll es mit 10 hoch 120 Möglichkeiten geben, eine Schachpartie zu | |
| beenden, mehr als Atome im Universum (10 hoch 80) existieren. | |
| Die Kunst im königlichen Spiel besteht heutzutage darin, eine „spielbare | |
| Stellung“ ohne große Nachteile zu erhalten. Carlsen ist ein Meister darin. | |
| Er laviert selbst in langweiligsten Positionen geduldig. Allerdings war das | |
| geistige Fracking in New York bisher wenig erfolgreich, weil Karjakin trotz | |
| schlechterer Eröffnungsvorbereitung jede Stellung gekonnt verteidigte. | |
| Die Computer sind Segen und Fluch zugleich: Carlsen gesteht, dass er Angst | |
| vor den Erkenntnissen der Rechner hat: „Ja, absolut!“ Einerseits kann nun | |
| jeder mit ihnen lernen und sich verbessern, ohne die besten russischen | |
| Trainer zu haben. Die beiden WM-Finalisten sind Vertreter der neuen | |
| Generation, die mit den Programmen aufgewachsen sind. Dass die beiden | |
| letzten Weltmeister aus Indien (Viswanathan Anand) und Norwegen kamen, ist | |
| kein Zufall. Als noch der 1966 in Belgrad gegründete „Informator“ als | |
| halbjährlich erscheinende Theoriebibel galt, hüteten die Sowjets ihre | |
| Eröffnungsgeheimnisse wie einen Schatz. | |
| ## Wider den „Remistod“ | |
| Andererseits sind viele Amateure genervt von der Computerisierung des | |
| Spiels. Ohne stundenlange Eröffnungsvorbereitung auf den nächsten Gegner | |
| muss man in Turnieren eklatante Nachteile befürchten – die Kontrahenten | |
| kennen die alten, längst vergessenen Partien meist besser als der einstige | |
| Schöpfer. Und sie folgen dann Ratschlägen namhafter Asse, ohne selbst viel | |
| Kopfarbeit beisteuern zu müssen – bis der Rivale eine zweifelhafte | |
| „Neuerung“ ersinnt, die direkt in die Niederlage führen kann. | |
| Die US-Legende Bobby Fischer, Weltmeister von 1972, prophezeite schon zu | |
| Lebzeiten seinem Sport den „Remistod“, weil alles ausanalysiert sei. Er | |
| erfand daher „Fischer Random Chess“. Wegen der 960 möglichen | |
| Grundstellungen, die nach bestimmten Vorgaben (ein Läufer steht auf einem | |
| weißen Feld, einer auf einem schwarzen etc.) ausgelost werden, heißt es | |
| heutzutage weniger sperrig „Chess960“. | |
| Weil die Vorbereitungsfron angesichts der unbekannten Startaufstellung | |
| keinen Sinn mehr macht, wächst die Popularität von „Chess960“: Einfach ans | |
| Brett hocken, loslegen und der Bessere gewinnt – nicht der besser | |
| vorbereitete. Endlich geht es wieder Mann gegen Mann. | |
| 21 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Hartmut Metz | |
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