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# taz.de -- Die Wahrheit: Die beste Kartoffel aller Zeiten
> Die Wahrheit wird 25! Greatest Hits (5): Die Beleidigung des polnischen
> Staatspräsidenten Lech Kaczyński und die Folgen.
Bild: Die junge Kartoffel mit Zwillingsbruder als Monddiebe
Die Wahrheit feiert am 25. November 2016 ihren 25. Geburtstag. Aus diesem
hohen Anlass lässt die Wahrheit in diesen Tagen einige ihrer besten
Geschichten noch einmal Revue passieren.
Landwirt Heinrich Angenendt war anscheinend völlig aus seinem
Bauernhäuschen. „Präsident Lech Kaczyński mit meiner angebauten Kartoffel
der Sorte ‚Linda‘ zu vergleichen, ist eine grobe Beleidigung für meine
Kartoffel“, schrieb er der taz, gespielt echauffiert, Ende Juli 2006 – auf
einem der zahlreichen Höhepunkte der „Kartoffelkrise“, die in bellizistisch
gestimmten Kreisen gar als „Kartoffelkrieg“ durchging.
Was in dieser ansonsten meist unlustigen Welt war passiert, dass in einer
weiteren Zuschrift eine gewisse „Agnieszka, die Studentin von Krakau“ zu
Protokoll gab: „Ich habe einen Artikel von Peter Köhler gelesen und ich bin
damit empört!! Dieser Artikel war unwahr.“
Wahrheit hin oder her – Fakt ist, dass Ende Juni 2006, mitten in das
sogenannte deutsche Fußballsommermärchen, ein doch recht komischer und
überaus ironischer Text über den damaligen polnischen Staatspräsidenten
Lech Kaczyński auf der Wahrheit erschien. Unter dem Titel „Polens neue
Kartoffel“ und der Unterzeile „Schurken, die die Welt beherrschen wollen“,
umkreiste der Wahrheit-Autor „Petera Köhlera“, wie er bald jenseits der
Oderlinie tituliert wurde, gekonnt die bigotte Bräsigkeit und überaus große
Deutschlandliebe des 2005 zu Amt und Würden gekommenen, breitgesichtigen
Lech „Katsche“ Kaczyński.
Zitat: „Oft genug hatte der ranghöchste Pole ausposaunt, er kenne von
Deutschland nicht mehr als den Spucknapf in der Herrentoilette des
Frankfurter Flughafens. […] Man war sich im Klaren über Kaczyńskis
schwarzes Weltbild, in dem seit dem Mittelalter jeder Deutsche auf vollen
Pferden gen Osten sprengt.“
## Derbe Klischees
Nicht nur, dass Köhler „Katsche“ vorführte, er arbeitete auch mit derben
Klischees über Deutsche und Polen, machte die Klischees dadurch lächerlich.
„Kaczyński “, sagt Köhler rückblickend, „hat nicht kapiert, dass diese
Satire in Teilen die herablassende deutsche Haltung zu Polen, diese tief
eingewurzelte Geringschätzung parodiert.“
Bis zur Butzbacher Zeitung in Hessen, den BBC News und dem Borneo Bulletin
drang die verwegene Kunde vom eineiigen Zwilling Lech, der mit seinem
Bruder Jarosław, nicht nur als Steppke in dem Kinderfilm „O dwóch takich,
co ukradli księżyc“, als Monddieb sein Unwesen getrieben hatte, sondern
auch später die für deutsche und englische Ohren recht lustig klingende
nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit, die PiS-Partei,
gegründet und usurpiert hatte.
Basierend auf einem luftdicht abgeriegelten Weltbild, das nur zwei
Feindbilder kannte – die Deutschen inklusive ihrer angeblich komplett
polenfeindlichen Medien und die Sowjets –, tollpatschten die beiden
PiS-Brüder über die Politbühnen. Kein Wunder, dass bei diesen
Bauerntheaterdarstellern auch der Vergleich mit einer Kartoffel nicht
folgenlos blieb.
Denn natürlich kriegte auch „Katsche“ die „totales Saterie“, so ein
Landsmann via Mail, kriegte die totale Kartoffel zu lesen. „Ein
schändlicher Artikel, mit dem alle Grenzen überschritten worden sind“,
wetterte daraufhin der Großkatholik gleich mal Richtung Bundesregierung und
Angela Merkel. Eine „Entschuldigung“ müsse stante pede her – schon allei…
weil sein Pendant Jarosław charakterisiert wurde als „lebt mit der eigenen
Mutter zusammen – aber wenigstens ohne Trauschein“.
Und weil es gar so dringlich und bierernst war, verglich das Warschauer
Präsidialamt die taz mit dem früheren Nazi-Hetzblatt Der Stürmer. Der
Beginn einer saftigen Posse auf historisch vermintem Gelände.
Zur Ehrenrettung des ersten Kabinetts Merkel muss vorab allerdings gesagt
werden, dass Berlin bei dieser komischen Geschichte eine Entschuldigung in
Warschau ablehnte. Beleidigungsdelikte gegen ausländische Staatsoberhäupter
seien immer im Lichte der Pressefreiheit auszulegen, wie das Grundgesetz
sie zusichert. „Unter Verweis auf die in Deutschland geltende
Pressefreiheit kommentieren wir diesen Vorgang nicht“, ließ das Auswärtige
Amt gegenüber der taz verlautbaren. Es komme hierzulande häufig vor, dass
man über einen Artikel oder eine Karikatur geteilter Meinung ist.
Sic! O tempora, o mores – denn von dieser entspannten Regierungshaltung war
bekanntlich in der Causa Erdoğan/Böhmermann jüngst nichts mehr übrig, was
zu einem Strafverfahren in Mainz gegen den TV-Spaßmacher führte. Zwar wurde
das folgenlos für Letzteren eingestellt, aber „Mainz, wie es singt und
lacht“ geht momentan in Hamburg als Zivilprozess weiter.
## Waschkörbeweise Zuschriften
Doch zurück zur Kartoffel nach Warschau und in das Wahrheitkontor, wo 2006
bald waschkörbeweise Zuschriften kamen, aufmunternde wie verdammende, und
der Shitstorm als solcher war noch gar nicht erfunden. „Danke für Wörter
der Wahrheit … mir sehr peinlich solch ein Idiot Kaczyński als Präsident zu
haben“, bekannte etwa ein Student namens Pawel aus Frankfurt an der Oder.
Auf der anderen Flussseite mutierte die derbe Knolle rapide zur unlecker
beleidigten Leberwurst. Einen geplanten Dreiergipfel zwischen dem damaligen
französischen Staatspräsidenten Chirac, ihr und Merkel, sagte sie mit dem
Hinweis auf Unpässlichkeit in Form von Magen-Darm ab. Die „deutsche
Krankheit“, spekulierte die polnische Presse, die sich zum Teil offen, zum
Teil hinter vorgehaltener Hand köstlich amüsierte über die Wahrheit-Satire,
habe den kleinen Mann erwischt, der sich allerdings auch schon vorher eher
abfällig über dieses „Weimarer Dreieck“ genannten regelmäßigen
Dreier-Konsultationen geäußert hatte. Daraufhin verfassten alle
Exaußenminister Polens seit 1989 einen aufsehenerregenden gemeinsamen Brief
an Lech, in dem sie ihm vorhielten, unnötig Spannungen hervorzurufen.
Die außen- und innenpolitischen Wellen schlugen also stetig höher, und
Wahrheit-Redakteur Michael Ringel mutierte zum Medienarbeiter: „Besonders
aus Entwicklungsländern kam Interesse an einer solch effektiven
Majestätsbeleidigung.“ Kartoffel-Autor Köhler war da schon dezent aus der
Schusslinie gebracht worden, während bei der Warschauer taz-Korrespondentin
Gabriele Lesser noch telefonisch oder per Post wüste Beschimpfungen
eingingen.
Peter Köhler erinnert sich: „Es war schon kurios, diese Schurken-Serie der
Wahrheit lief bereits seit einigen Jahren, ohne dass jemals jemand
getroffen aufgeschrien hätte – auch der heute vergessene Roland Koch
nicht.“ Ganz anders „Katsche“. Warschau eröffnete Ende Juli 2006 stracks
ein Ermittlungsverfahren gegen den Autor, Wahrheit-Redakteur Ringel und die
damalige taz-Chefin Bascha Mika.
Grundlage für das Verfahren, sagte damals eine Behördensprecherin, sei
Artikel 135 § 2 des polnischen Strafrechts über die öffentliche
Verunglimpfung des Staatsoberhaupts, der bis zu zwei Jahren Haft vorsehe.
Und der damalige Fraktionsvorsitzende der PiS-Partei, Przemysław Gosiewski,
wollte Köhler gar per europäischem Haftbefehl suchen lassen.
Und in Deutschland? Rieten Juristen dem taz-Trio, für ein Jahr nicht gen
Polen zu fahren, so dass etwa Peter Köhler im Juni 2007 liebend gern nicht
einreiste zu einer angesetzten Vorladung in Warschau. Ohne großes Getöse
wurde dann Ende 2007 das Ermittlungsverfahren gegen die taz eingestellt –
„mangels Beweisen“, wie die dortige Behörde plötzlich lapidar mitteilte. …
war zwar noch Lech Kaczyński als Staatschef im Amt, doch seinen
Zwillingsbruder Jarosław hatte kurz zuvor der liberalere Donald Tusk als
Ministerpräsident abgelöst.
Die Moral von der Kartoffel-Geschichte? „Heute sind die nationalen
Empfindlichkeiten auf beiden Seiten noch viel stärker geworden – man müsste
noch heftiger reizen“, sagt Köhler. „Katsche“ kam bekanntlich 2010 nicht
lustig bei einem Flugzeugabsturz ums Leben; Jarosław wohnt alleine, seitdem
seine Mutter starb – und die Wahrheit hatte sich schon Anfang Juli 2006 bei
der Gemüseknolle für die ungewollte Beleidigung entschuldigt. Das hatte
Landwirt Angenendt wohl schlicht übersehen. Nix für ungut!
11 Nov 2016
## AUTOREN
Harriet Wolff
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Polen
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