| # taz.de -- Kolumne Rollt bei mir: 50 Shades of Bodenbelag | |
| > Flirten? Vergiss es! Rollstuhlfahren macht einsam. Der Blick bleibt | |
| > nämlich immer auf den tückischen Untergrund fixiert. | |
| Bild: Nur eines von vielen Hindernissen für RollstuhlfahrerInnen: Löcher im A… | |
| Kopfsteinpflaster ist mein persönlicher Endgegner. Der Feind jedes Coffee | |
| to go auf meinem Schoß. Aber da Coffee-to-go-Becher ja bekanntlich | |
| Wegwerfprodukte und schlecht für die Umwelt sind, sollte ich mit dem Kauf | |
| der Pappbecher sowieso aufhören. | |
| Das würde aber auch bedeuten: Ich müsste mit dem Kaffee unterwegs aufhören, | |
| und das ist leider keine Option. Ich bin dabei eine besonders schlimme | |
| Umweltsünderin; denn ich brauche unbedingt den Plastikdeckel zum | |
| Pappbecher, sonst kann ich den Kaffee nicht transportieren, meine Kleidung | |
| würde mehr Kaffee bekommen als ich, und das ist genauso keine Option. | |
| Einige RollstuhlfahrerInnen haben, wie ich hörte, Becherhalterungen an | |
| ihrem Rollstuhl. Da ja bald Weihnachten ist, nutze ich an dieser Stelle in | |
| einer überregionalen Zeitung die Gelegenheit: Wer mir auch immer etwas zum | |
| Fest schenken möchte, der schenke mir eine Kaffeebecherhalterung inklusive | |
| eines Thermobechers, der auch beim Ruckeln auf dem Kopfsteinpflaster | |
| dichthält. | |
| Rollstuhlfahren ist eine wackelige Angelegenheit. Nun mag der eine oder | |
| andere denken: Man sitzt im Rollstuhl, Sitzen ist eine an sich stabile | |
| Sache. Doch das ist sie eben nicht, wenn man sich bei der Fortbewegung | |
| nicht auf seine Füße, also seinen Körper, sondern auf Räder eines | |
| Fremdkörpers verlassen muss. | |
| ## Stolperpotenzial begutachen | |
| Man kann nicht einfach so des Weges rollen. Man braucht ständig die Hände. | |
| Und die Augen sind fast immer fest am Boden fixiert. Jeder Wechsel im | |
| Bodenbelag, jede schiefe Gehplatte, jede Baumwurzel, die zwischen | |
| Gehwegplatten hervorguckt und jedes herumliegende Stöckchen muss | |
| registriert und ob des Stolperpotenzials begutachtet werden. | |
| Wobei Stolpern beim Rollstuhlfahren leider nicht stimmt. Es ist kein | |
| Wanken, es ist ein Friss oder Stirb, ein Rollen oder eben ein | |
| Aus-dem-Rollstuhl-auf-den-Boden-Stürzen, weil ein Rad sich auf einem | |
| unebenen Boden verkeilt hat. | |
| Die Rollstuhlindustrie baut nämlich die kleinen Vorderräder gerne genau so | |
| groß, dass sie in eine Unebenheit im Boden passen und steckenbleiben. Der | |
| Rollstuhl kippt nach vorne und lädt einen selbst – wenn man Pech hat – auf | |
| den Boden aus wie eine Schubkarre den Sand. | |
| Wenn man Glück hat, kippt der Rollstuhl mit einem wieder zurück in seine | |
| ursprüngliche Position. Fasst besser als jeder Koffeinschub. | |
| Rollstuhlfahren macht einsam. Man ist bei hügeligem Boden gezwungenermaßen | |
| langsamer als andere, der Blick ist ständig gesenkt. Welche Möglichkeiten | |
| zu flirten mir dabei schon entgangen sein müssen! Außerdem kommt vom | |
| Nachunten-Starren bestimmt auch mein schlechter Orientierungssinn. | |
| Abzweigende Straßen sehe ich später, Straßenschilder befinden sich viel | |
| weiter oben. | |
| Zum Glück gibt es da neuerdings Kartenapps. Das Smartphone liegt auf dem | |
| Schoß, mit einem Auge wird die Route gecheckt, mit dem anderen der Boden | |
| gescannt. Ein gefangener Blick im Rollstuhlradius. Schade, dass es „Wetten, | |
| dass..?“ nicht mehr gibt. Ich würde wetten, dass ich 50 Straßen Berlins | |
| anhand des Bodenbelags erkenne. | |
| 27 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Judyta Smykowski | |
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