| # taz.de -- Interview Leslie Mandoki: „Viktor Orbán ist ein Glücksfall“ | |
| > Ex-Dschinghis-Khan-Mitglied Leslie Mandoki floh 1975 von Ungarn nach | |
| > Deutschland. Heute verteidigt er die Politik des ungarischen | |
| > Ministerpräsidenten. | |
| Bild: Mandoki (r.) mit Forstwirt Alexander Schaumburg-Lippe bei einer Charity-V… | |
| taz: Herr Mandoki, in Ihrem Film „Sehnsucht nach Freiheit“ geht es um den | |
| Ungarischen Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzung 1956 – und dessen | |
| Wirkung bis heute. Ist das ein Stück biografischer Aufarbeitung für Sie? | |
| Leslie Mandoki: Natürlich. Ich war 1956 knapp vier Jahre alt. Damals, als | |
| sie das Stalindenkmal abgesägt haben, saß ich auf den Schultern meines | |
| Vaters. Als fast Vierjähriger hat man natürlich nicht viel in Erinnerung, | |
| nur Fetzen, aber diese Bilder sitzen tief. | |
| Im Film sagen Sie, ohne den Aufstand 1956 hätte es den Mauerfall 1989 nicht | |
| gegeben. Wo ist da der Zusammenhang? | |
| 1989 hat die ungarische Studentenbewegung erstritten, dass der Aufstand von | |
| 1956 nicht mehr als „faschistische Konterrevolution“ bezeichnet wurde, | |
| sondern als „Volksaufstand“. Dass die Aufständischen, die in einem | |
| Massengrab verscharrt worden waren, feierlich beerdigt wurden. Sie haben | |
| damit die Geschichte richtiggestellt. Uwe Schwabe, der Vordenker der | |
| Leipziger Montagsdemos, war damals dort, weil er eine ungarische Freundin | |
| hatte. Der junge, ungarische Studentenführer (Viktor Orbán; d. Red.) hat da | |
| erstmals öffentlich eine freie Presse, den Abzug der Roten Armee und | |
| demokratische Wahlen gefordert. Alle Historiker, mit denen ich gesprochen | |
| habe, sagen: Damit wurde der erste Stein aus der Berliner Mauer geschlagen. | |
| Welche Lehren sollten denn aus der Geschichte gezogen werden? | |
| Es braucht eine gesellschaftliche Debatte über Freiheit. Zum Beispiel: | |
| Können wir Intoleranz tolerieren? Was bedroht unser Freiheitsgefühl? | |
| Überall wo es bedroht wird, müssen wir unsere Stimme erheben. Das kann | |
| alles Mögliche sein. No-go-Areas, oder die Gleichberechtigung der Frau, die | |
| unantastbar ist, oder dass es keinen Platz für Antisemitismus und | |
| Homophobie gibt. Dass die Presse eine unantastbare Freiheit hat. | |
| Sie zählen die Gleichberechtigung der Frau auf, No-go-Areas, Homophobie – | |
| Themen, die häufig zur Sprache kommen, wenn über eine sogenannte Bedrohung | |
| durch Einwanderer gesprochen wird … | |
| … ich bin selbst ein Einwanderer … | |
| … und sind Sie der Ansicht, dass die genannten Werte durch Einwanderer | |
| bedroht sind? | |
| Nein. Eine Bedrohung ist es, wenn wir als Gesellschaft nicht in der Lage | |
| sind, unsere Werte zu vermitteln. | |
| Wurden Ihnen damals Werte beigebracht? | |
| Als ich mit 22 Jahren als illegaler Einwanderer nach Deutschland gekommen | |
| bin, sprach ich kein Wort Deutsch, war ein alleinreisender Mann – auf mich | |
| passen alle diese Klischees. Damals habe ich viel Herzlichkeit und | |
| Offenheit erlebt. Menschen, die mir weiterhalfen, sich um mich kümmerten. | |
| Damals hieß das nicht Willkommenskultur, aber die Sache an sich und auch | |
| dass die Integration meine eigene Bringschuld war, war eine | |
| Selbstverständlichkeit. Unsere Aufgabe ist auch heute, die Menschen, die | |
| hierher kommen, genauso an die Hand zu nehmen. | |
| Sie sind näher dran an der aktuellen ungarischen Regierung als viele | |
| deutsche Politiker. Hier nimmt man es so wahr, dass die Gesellschaft in | |
| Ungarn zuletzt nicht gerade toleranter geworden ist. | |
| Man sollte genauer hinsehen. Ich zitiere den Holocaust-Überlebenden und | |
| Nobelpreisträger Imre Kertész: „In Brüssel ist es gefährlich, am | |
| helllichten Tag mit der Kippa auf die Straße zu gehen, im Schmelztiegel | |
| Budapest ist das zu jeder Tageszeit möglich.“ Und überlegen Sie mal: In | |
| Ungarn sind erst 26 Jahre seit dem Fall der Diktatur vergangen. 26 Jahre | |
| nach dem Fall der Diktatur in Westdeutschland waren dort Wasserwerfer auf | |
| der Straße, der Spiegel-Chefredakteur wurde verhaftet und die RAF mordete. | |
| Das ist in Ungarn nicht so. | |
| Wasserwerfer auf der Straße sind aber womöglich gerade ein Zeichen für eine | |
| junge Generation, die sich freikämpft. Kein Wasserwerfer auf der Straße | |
| kann das schlechtere Zeichen sein. | |
| Sie haben recht, für die westdeutsche Gesellschaft war es vielleicht ein | |
| gutes Zeichen, sie rüttelte und schüttelte sich. Aber die | |
| mitteleuropäischen Gesellschaften tun das auch. Sie müssen sich neu finden. | |
| Bei Ungarn hat man den Eindruck, dass es gerade nicht um Rütteln und | |
| Schütteln, sondern um Kontrolle geht. Grenzen bauen, verstärkte | |
| Polizeipräsenz und die Konzentration von Befugnissen bei der Regierung. | |
| Empfinden Sie das als den richtigen Weg? | |
| Die Antwort ergibt sich aus meiner Lebensgeschichte. Ich habe immer die | |
| Auseinandersetzung gesucht. Ich bin ein schrecklich unangepasster Kerl. | |
| Warum stehen Sie dann eigentlich der CSU nah, sind sogar mal für sie | |
| angetreten? Wer in Bayern lebt und unangepasst ist, geht doch zur SPD oder | |
| zu den Grünen. | |
| Selbst da, wo die Grünen den Ministerpräsidenten stellen, haben sie nicht | |
| geschafft, was die CSU in Bayern geschafft hat: Der Starnberger See hat | |
| heute Trinkwasserqualität. Umweltpolitik ist mir wichtig, und zwar nicht in | |
| Sonntagsreden, sondern in ihrem Ergebnis. Als Vater liegt mir außerdem viel | |
| an einem guten Bildungssystem – das haben wir in Bayern. Und als ehemaliger | |
| Asylant geht es mir um Integration. München ist ein ähnlicher Schmelztiegel | |
| wie Budapest. München hat 28 Prozent Ausländeranteil, und trotzdem keine | |
| Integrationsdefizite. | |
| Das Leitmotiv Ihres Films ist: Auf einem Boden von Werten so frei wie | |
| möglich zu sein. Haben Sie das Gefühl, dass in Ungarn Freiheiten genug | |
| geschützt werden, etwa die Pressefreiheit? | |
| Im Jahr 2014 war ich zu Gast bei einem Treffen des deutschen | |
| Wirtschaftsclubs in Ungarn. Da kamen um die 60 Journalisten zur | |
| Pressekonferenz, die habe ich gefragt: „Erlebt ihr Zensur? Gibt es konkrete | |
| Vorgänge von Einschränkungen?“ Keiner konnte mir einen konkreten Fall von | |
| Zensur nennen. Ich lese natürlich auch, was in der Süddeutschen und | |
| anderswo steht. Ich kenne diese Vorwürfe. Aber auf meine Nachfragen ließ | |
| sich zumindest keine Einschränkung der Presse ausmachen. | |
| Sie als Künstler müsste aber doch so ein Mediengesetz, wie es jetzt in | |
| Ungarn existiert mit all seinen Eingriffsmöglichkeiten, beunruhigen. | |
| Einschränkungen der Pressefreiheit darf es nicht geben. Aber wie gesagt, | |
| waren für mich keine belastbaren Informationen über Einschränkungen | |
| auszumachen. | |
| Sie sind ein freiheitsliebender Mensch und verteidigen doch Orbán: Wie geht | |
| das zusammen? | |
| Hätten Sie das auch Willy Brandt gefragt, als er mit Breschnew geredet hat? | |
| Nein, weil es richtig war. Ich finde es auch richtig, wenn heute jemand mit | |
| Putin redet. Ich halte es für idiotisch, bei dem Wort „Putinversteher“ | |
| Schnappatmung zu kriegen. Wenn wir den Mann nicht verstehen, wird es keine | |
| Annäherung geben. | |
| Sie haben mal gesagt, Angela Merkel sei „ein Glücksfall für Deutschland und | |
| Europa“. Sehen Sie das immer noch so? | |
| Dabei bleibt es. Meine Loyalität steht außer Frage. | |
| Ist Viktor Orbán ein Glücksfall für Ungarn? | |
| Viktor Orbán hat ein Land, das vor sechs Jahren seine Rentner, seine | |
| Beamten nicht bezahlen konnte, dahin gebracht, dass die | |
| Jugendarbeitslosigkeit heute eine der niedrigsten in Europa ist. Dass | |
| Ungarn seine Schulden zurückzahlen kann und heute mit die höchsten | |
| Wachstumsraten in der EU aufweist. Das ist eine Errungenschaft. Budapest | |
| ist heute ein weltoffener kosmopolitischer Schmelztiegel. Natürlich dürfen | |
| Medien unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Aber gibt es denn | |
| tatsächlich belastbar derartige Einschränkungen? Ich konnte keine finden. | |
| Aber für den Titel „Glücksfall“ reicht das alles nicht aus? | |
| Doch, ebenso wie Frau Doktor Merkel ein Glücksfall für die Deutschen ist, | |
| so ist Viktor Orbán ein Glücksfall für die Ungarn. Europa würde es gut tun, | |
| wenn die beiden sich wieder besser verstünden. Und ich glaube, sie sind auf | |
| einem guten Weg. | |
| 22 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürn Kruse | |
| Peter Weissenburger | |
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